
Heft 10/1985
XXIX. Berliner Festtage 1985
Gastspiele aus Bezirken der DDR
Broschur mit 80 Seiten, Format: 200 x 290 mm
ISSN 0040-5418
Worüber wir uns verständigen sollten: Im Mai 1789 hielt Schiller in Jena seine berühmte Antrittsvorlesung über das Thema »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?«. Dabei führte er seine Zuhörer zu einer erstaunlichen Feststellung: »... daß wir uns in diesem Augenblicke hier zusammenfanden, und mit diesem Grade von Nationalkultur, mit dieser Sprache, diesen Sitten, diesen bürgerlichen Vorteilen, diesem Maß von Gewissensfreiheit zusammenfanden, ist das Resultat vielleicht aller vorhergegangenen Weltbegebenheiten; die ganze Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein, dieses einzige Moment zu erklären.« Mich fesseln die Komplexität und das Prozeßhafte dieses Gedankens, weil er mit genialer Anschaulichkeit die objektive Verbundenheit des Menschen mit der Vergangenheit der Menschheit bewußt macht; das heißt aber gleichzeitig, auch die Kenntnis dieser Vergangenheit fordert, weil nur dadurch der eigene Standort bestimmt werden kann. Wenn aber Gegenwärtiges als Kristallisationspunkt des Historischen aufgefaßt wird, dann auch zwangsläufig als Fundament von Zukünftigem - woraus wiederum der von der Menschheit (und damit vom einzelnen Menschen) noch zu leistende Prozeß der Entwicklung verstanden, formuliert und als Aufgabe angenommen werden muß.
Diese Folgerungen könnte selbstverständlich jeder fundierte Geschichtsunterricht vermitteln - als beweisbares Wissen, also auf dem rationalen Weg der Erkenntnis. Wenn uns aber von der Gesellschaft zugestanden wird, durch die Aufführungen »klassischer« Opern in den Vorgang der Welterkenntnis einzugreifen, muß anderes hinzukommen. Dieses andere ist, so denke ich, nicht schlechthin die emotionale Komponente. Es ist, auf eine simple Formel gebracht, das Angebot und die Einladung an den Zuschauer, sich mit seiner ganzen Persönlichkeit zu dem historischen Geschehen in Beziehung zu setzen.
Die Theaterleute geben vor, über dieses Ziel ziemlich einig zu sein. Über die Methoden allerdings sind wir zerstritten wie noch nie. Meine Erfahrungen lassen mich sagen, daß in der Regel die Versuche einer äußerlichen Aktualisierung klassischer Opern (in der Ausstattung, in der direkten Übertragung heutiger Verhaltensmuster auf klassische Figuren) sowohl den Interpreten als auch den Zuschauer fehlleiten. Dem Interpreten engt es die »eigene Handschrift« ein (weil er in beängstigend zunehmendem Maße modischen Schemata erliegt), und dem Zuschauer, die eigene Phantasieleistung, seine produktive Beteiligung am Theater, die Entscheidung, was ihn betrifft, was nicht. Und auch - im Sinne des Schiller-Zitats - die vorhandene oder noch zu erwerbende Fähigkeit, jegliches Tun von Menschen als individuell und gesellschaftlich belangvollen Prozeß zu erleben.
Für mich gehört das im klassischen Kunstwerk mitgeteilte Realitätsbild zu jenen unverzichtbaren Quellen, durch die wir auf dem Weg der Welt- und Gefühlserfahrung zu unserem gegenwärtigen Sein geführt werden. Diese Duplizität von Erkenntnis und Erlebnis kann nur Kunst leisten. Das wird aber nur gelingen, wenn der Rezipient zu den historischen Figuren seine eigene emotionale Qualität herstellen darf; wenn die sinnhaft vorgeführten Verhaltensweisen ihn so bewegen, daß er - auch - nach seinem eigenen Standpunkt und seinen eigenen Entscheidungen in analogen oder auch in ganz anderen Konfliktsituationen fragt. Nehmen wir dem Zuschauer diese seine Aktivität, seine genußvoll-schöpferische Entgegennahme des Kunstwerkes ab, dann wird die dialektische Beziehung Publikum/Bühne zu einer mechanischen und vor allem zu einer didaktischen reduziert. Das ist eine Todsünde, der wir uns nicht ergeben sollten.
Gerade in einem Zeitalter, dessen Existenz auf enormen Anforderungen an Ratio, an Leistungsvermögen des einzelnenberuht, ist die Sensibilisierung der Empfindungs- und Erlebnisfähigkeit durch Kunst ungeheuer wichtig: für die Vertiefung und Bereicherung der persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen und damit für eine qualitätsvollere gesellschaftliche Befindlichkeit. Die Emotionalität von Opernmusik, aufgehoben in der Konkretheit von Situation, Text und Handlung, das, was die Musik »mehr« dazu gibt, ist das Pfund, mit dem wir wuchern können. Unter der Voraussetzung, daß alle Faktoren zusammenwirken, um die Vorgänge transparent zu machen für den Einstieg des Zuschauers. Wiederum: das wird nur dann - annähernd - gelingen, wenn die Interpretation eine ästhetische Einheit aller Komponenten anstrebt.
Dies möchte ich so verstanden wissen, daß keinesfalls jede Komponente das gleiche sagt wie die andere. Im Gegenteil. Durch Reibungsverhältnisse ist die Dynamik der ästhetischen Einheit für mich herzustellen. Auf diese Weise wird der Zuschauer in schöpferischer Unruhe gehalten, die ihm die persönliche Phantasieleistung abverlangt, das Elementarerlebnis Oper gewährleistet. Wird eine Seite - etwa die Optik - durch wesensfremde, moderndidaktische Elemente herausgebrochen, gibt es verwirrende Brüche. Möglicherweise entzieht sich der Besucher dann und hält sich nur an die Musik, versinkt in ihr, statt durch Musik Menschen in ihren speziellen Situationen und Problemkreisen zu erleben. Warum sollten wir ihm vorenthalten, ihm ersparen, daß er sich als Eigenleistung identifizieren und gleichzeitig mit seinen Meinungen und Erfahrungen »dazwischenkommen« kann? Die Interpreten nehmen sich dieses Recht, müssen es wahrnehmen und ihren Standpunkt zum Stück künstlerisch formulieren - das aber muß dem Zuschauer auch zugestanden werden.
Aus der klassischen Oper, wie aus jeder großen Schöpfung der Kunst, lese ich immer
wieder das ersehnte Ideal einer menschenwürdigen Weltordnung als notwendige und mögliche Leistung von Menschen heraus. Indem wir dies auch in seiner jeweils historischen Bedingtheit bloßlegen, ist uns ein Mittel gegeben, das schöpferische Verhalten des Menschen zum Leben zu stimulieren, das persönliche Dasein auch als Verpflichtung darzustellen, dem Ideal zuzuarbeiten. Dabei spielen persönliche ethisch-moralische Kategorien im menschlichen Verhalten mit, wie Kühnheit, Opferbereitschaft, Suchen nach Vervoll kommnung, Liebe usw. - immer verstanden und postuliert als auch gesellschaftlich wirkende Kräfte.
Es geht nicht darum, Historisches vorzuführen, sondern den Sinn zu schärfen für das Prozeßhafte jedes menschlichen Daseins. Also zum Beispiel die ungeheuer komplizierten Konflikte aufzubrechen, die das Individuum zu bewältigen hat, wenn es gilt, persönliches Glücksverlangen und gesellschaftliche Verantwortung in Übereinstimmung zu bringen; zur Wirkung führen; was den »Helden« befähigt, das zu tun, was im Interesse seiner persönlichen Entfaltung in Kongruenz oder im Widerspruch zu gesellschaftlichen Prozessen möglich ist; oder aber die Gründe für ein Fehlverhalten zeigen, was Umwege gehen, vielleicht sogar scheitern läßt. Das Historische also in seinem Aufbruch, aber auch in seiner Begrenzung erleben lassen. Das heißt aber, den bis heute zurückgelegten historischen Weg tiefer begreifbar machen und damit das dialektische Verhältnis von Historischem und Gegenwärtigem als Aufforderung zum Handeln für die Zukunft anzubieten.
Ehrhard Warneke (Kolumne)
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Umschau | |
Leipzig/Theaterhochschule: Lysistrate von Aristophanesvon Agnes Meyer | Seite 1 |
Brandenburg: »Das unheimliche Biest« von Alexander Langvon Octavia Winkler | Seite 1 |
Weimar: Der Diener zweier Herren von Carlo Goldonivon Jochen Gleiß | Seite 2 |
Berlin/Maxim Gorki Theater: Das Interview von Armin Stolpervon Jochen Gleiß | Seite 2 |
Dessau: Ballettabend 85von Rolf Iden | Seite 3 |
Halle/Puppentheater Larifari: Aucassin und Nicolette von Frieder Simonvon Ernst-Frieder Kratochwil | Seite 3 |
Kongreß | Seite 4 |
Anspruch und' VermögenUnsere Puppentheater vor dem V. Kongreßvon Käthe Seelig-Vogeler | |
Kolumne | Seite 4 |
Worüber wir uns verständigen solltenvon Ehrhard Warneke | |
Puppentheater | |
Märchen-AdaptionenPuppentheater-Aufführungen in Berlin, Halle und Neubrandenburgvon Silvia Brendenal und Martin Morgner | Seite 6 |
Über die Puppen kam ich zu den Menschen ...Gespräch mit Jutta Balkvon Elke Schneider und Jutta Balk | Seite 9 |
Inszenierungen | Seite 11 |
Persona grata im Theater?Stichworte eines Gesprächs zwischen Kabarettisten und Theaterleutenvon Peter Reichel | |
DDR-Theater | Seite 13 |
Erinnerungen - vorwiegend gesungenJe zweimal Kurt Weill und DDR-Geschichte, präsentiert durch drei Schauspielensemblesvon Ernst-Frieder Kratochwil | |
Hinter der Bühne | Seite 15 |
»Tendenz ermutigend«Fachschulstudium für Kostümgestalter ist in Gang gekommenvon Günther Bellmann | |
Theaterreport | Seite 17 |
Theater an der Peripherie?Beobachtungen am Theater der Jungen Generation Dresdenvon Octavia Winkler | |
Rezensionen | |
Hoffnung auf Veränderung?»Der Totentanz« von August Strindberg am TiPvon Klaus-Peter Gerhardt | Seite 20 |
Mosaiken um HarryHeinrich V. von Shakespeare in Weimarvon Jochen Gleiß | Seite 22 |
Die beiden Mädchen, sag ich, sind verrückt ...Alkestis von Euripides in Stendal und Antigone von Sophokles in Geravon Ulf Brandstädter | Seite 24 |
Erstaufführung | Seite 26 |
Gegen die Lebensbedrohung der MenschheitZur DDR-Erstaufführung von Hochhuths Judith in Rostockvon Manfred Nössig | |
Rezensionen | Seite 27 |
Nicht die Nachtigall, sondern die Krähe ...»Troilus und Cressida« von Shakespeare am BEvon Armin-Gerd Kuckhoff | |
Auftakt | Seite 28 |
Gespräche mit DirigentenChristian Kluttigvon Wolfgang Lange und Christian Kluttig | |
Oper | |
AusgelöschtDie Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke von Matthus in Erfurtvon Wolfgang Lange | Seite 30 |
Entscheidung ohne RisikoEinige Grundsatz- und Arbeitsprobleme unserer Cornet-lnszenierungvon Ute Unger | Seite 31 |
Gastspiele | Seite 33 |
Musical-Nachschub aus Bratislava und BudapestLeipzig: Goldfieber von Šebo-Martinsky (E. Schneider); Halberstadt: Am Mittwoch ist Frühling von Fenyes / Bascó (U. Damerau)von Elke Schneider und Ulrich Damerau | |
Ballett | Seite 35 |
Menetekel und PlädoyerBallettabend mit Wolfe und Carmina Burana in Weimarvon Karin Schmidt-Feister | |
Tanztheater | |
Tanztheater-Forum IIIAus meinem Leben / Abendliche Tänze / Die Probe an der Komischen Opervon Volkmar Draeger | Seite 36 |
Choreographin aus LeidenschaftGespräch mit Ingrid Colletvon Regina Schettler und Ingrid Collet | Seite 37 |
Ausland | |
Fest der BallettkunstV. Internationaler Ballettwettbewerb 1985 in Moskauvon Udo Wandtke | Seite 39 |
Entertainment und PostavantgardeUnterhaltendes und Experimente beim Kopenhagener Internationalen Theaterfestival (KIT)von Hans-Rainer John | Seite 42 |
Theben in BergenEindrücke von den Internationalen Festspielen in Bergen (Norwegen)von Manfred Haedler | Seite 46 |
DDR-Dramatik | Seite 49 |
... und konnten zusammen nicht kommen?Zum Verhältnis von Theater und Dramatikvon Hans-Rainer John | |
Dramatiker | Seite 50 |
Auf der Suche nach Werten, Idealen und VorbildernBetrachtungen zu neuen Stücken junger Dramatikervon Volker Trauth | |
Stückabdruck | Seite 52 |
Der Stein des AnstoßesVolksstück in drei Aktenvon Rudi Strahl | |
TdZ-Informativ | Seite 65 |
25 Jahre Leipziger Opernhausvon Nachrichtenagentur der DDR ADN | |
Inland | |
»Lumpensack«von Hendrik Preuß | Seite 66 |
Engagement für zeitgenössische Musikdramatikvon Nachrichtenagentur der DDR ADN | Seite 66 |
Kabarett-Werkstattvon Peter Geng | Seite 67 |
Barlach-Stücke in Güstrowvon C. M. | Seite 67 |
Mundarttheatervon Ch. Rathewalde | Seite 67 |
Personelles | Seite 68 |
Inland | Seite 68 |
Meisterschüler im TiPvon Joachim Bohlmann | |
Unterwegs | Seite 68 |
Erinnerung | Seite 69 |
ErinnerungVor zehn Jahren, am 8. Oktober 1975, starb Walter Felsensteinvon Wolfgang Lange | |
Ausland | |
Inflationäre Entwicklung am Broadway | Seite 70 |
»Arlecchino« in Montepulcianovon Helmut Döhnert | Seite 70 |
40 Jahre Opera Ślaska in Bytomvon Stephan Stompor | Seite 71 |
Opern nach klassischer Vorlage(Gekürzt aus »Iswestija«)von D. Morosow | Seite 71 |
Puppentheater - Leistungsvergleich in Sofiavon Barbara Fuchs | Seite 72 |
Bücher | Seite 73 |
Peter Reichel / Klaus Pfützner: Die DDR-Dramatik - Bilanz 84»Material zum Theater« Nr. 188, hrsg. v. Verband der Theaterschaffenden der DDR 1985, 60 Seiten, 2,50 Markvon Martin Linzer | |
»Wir bitten um neue Stücke«: Sowjetische Regisseure, Dramatiker und Kritiker über Probleme des zeitgenössischen Theaters in der UdSSRNr. 189 der Schriftenreihe »Material zum Theater«, hgg. vom Theaterverband, Berlin 1985, 85 S., 3,50 Mvon Hans-Rainer John | |
Rudi Strahl: Lustspiele, Einakter und szenische Miniaturen. Mit einem Essay von Gottfried FischbornHenschelverlag Berlin 1985, 564 Seiten, 18 Markvon Martin Linzer | |
Spielpläne | Seite 74 |
Vom 16. Oktober bis 15. November 1985 | |
Premierenkalender | Seite 75 |
Vom 16. Oktober bis 15. November 1985 | |
Essay | Seite 77 |
Ur- und Erstaufführungen / Musiktheater / Schauspiel | |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Inhalt | Seite 80 |
Jutta Balk
Günther Bellmann
Joachim Bohlmann
Ulf Brandstädter
Silvia Brendenal
Ingrid Collet
Ulrich Damerau
Helmut Döhnert
Volkmar Draeger
Barbara Fuchs
Peter Geng
Klaus-Peter Gerhardt
Jochen Gleiß
Manfred Haedler
Rolf Iden
Hans-Rainer John
Christian Kluttig
Ernst-Frieder Kratochwil
Armin-Gerd Kuckhoff
Wolfgang Lange
Martin Linzer
C. M.
Agnes Meyer
Martin Morgner
D. Morosow
Nachrichtenagentur der DDR ADN
Manfred Nössig
Hendrik Preuß
Ch. Rathewalde
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