
Heft 08/1991
Theater in Berlin und der Schweiz
Broschur mit 96 Seiten, Format: 220 x 310 mm
ISSN 0040-5418
Zwischen-Saison? Ich vermute, die Mehrzahl der Theaterschaffenden in den neuen Bundesländern ist in diesem Jahr mit ruhigerem Gefühl in die wohlverdienten Ferien gegangen als im Vorjahr, vergleichsweise. Gemessen an den strukturellen Problemen in Industrie und Landwirtschaft, im Bildungs- und Gesundheitswesen, angesichts bedrohlicher Massenentlassungen in diesen Bereichen, konnte der kulturelle Bereich, trotz Verlusten, trotz mannigfacher Schwierigkeiten, seinen »Besitzstand « im wesentlichen behaupten. Das betrifft auch und gerade die Theater.
Es gibt gewiß Anlaß, das intellektuelle Niveau der neuen Kulturbürokratie, gemixt aus Besser-Wessis und Wende-Ossis, zu beklagen, und die öffentliche Zurschaustellung der kulturellen Ländervertreter zum Abschluß der Jahrestagung des Deutschen Bühnenvereins in Hannover war ein erschreckendes Beispiel, aber: es gibt den erklärten Willen der Kommunen und der Länder, die Theater als kulturelle Zentren in ihren jeweiligen Territorien zu erhalten, in Maßen zu fördern und dabei ihre künstlerische Freiheit zu respektieren. Auch für die Theaterschaffenden als »Arbeitnehmer« zeichnet sich ab, daß durch tarifpolitische Entscheidungen der Prozeß der Angleichung an die Lebens- und Einkommensverhältnisse in den alten Bundesländern auf diesem Gebiet schneller vorankommt als in anderen Bereichen der Volkswirtschaft; groteskerweise wäre meines Erachtens eher davor zu warnen, die Forderungen im sozialen Bereich zu forcieren, die die gerade in Gang gekommene Finanzierbarkeit der Theaterarbeit wieder infragestellen könnten. Schon jetzt ist absehbar, daß der Ersatz des überholten RKV durch den NV Solo nicht nur Vorteile für den einzelnen Kollegen bringt, sondern - über die 15-Jahre-Regelung - auch zu einer neuen Zementierung und Überalterung der Ensembles führen kann, was doch immer als Nachteil des RKV beklagt wurde.
Der Prozeß der Auswechslung alter Theaterleitungen - wie wenig das in der Regel korrupte und korrumpierbare »Seilschaften« waren, wir wissen das scheint nahezu abgeschlossen. Nach der Invasion der West-Importe mit erhoffter Marktwirtschaftserfahrung - wobei sich rasch die seriösen Vertreter der Zunft von der Spreu der Glücksritter und Karrieristen sondern werden, das wird die harte Praxis schon mitsichbringen - sind inzwischen auch bewährte Ost »Kader« bestätigt oder neu berufen worden, auf zahlreichen Intendantenstühlen haben ehemalige DDR-Bürger Platz genommen, die ererbte Vertrautheit auch mit den mentalen Bedürfnissen der neuen Bundesbürger verbinden mit erworbener Kenntnis der rauhen Luft der freien Marktwirtschaft. In sie setze ich besondere Erwartungen. Wir werden in einem der nächsten Hefte Gelegenheit nehmen, einige der neuen Intendanten nach ihren Zielvorstellungen zu befragen.
In Berlin, alte neue Hauptstadt und bald auch Regierungssitz, scheint inzwischen alles in Sack und Tüten. Vieles ist hier sicher einem cleveren und dynamischen Kultursenator zu danken, der die Vorstellungen seiner »Viererbande« wie auch die Diskussion darüber klug zu nutzen wußte, akzeptable Lösungen schuf bzw. vorbereitete. In einigen Punkten hat er seine Berater korrigiert (Maxim Gorki Theater, Schloßparktheater, Hebbeltheater), in einigen ist er stur geblieben, auch gegen die öffentliche Meinung. Ich persönlich hätte kein Problem mit einer Privatisierung von Metropol-Theater und Friedrichstadtpalast, einen der Zankäpfel zu nennen, wenn es gelänge, die traditionsreichen Häuser als kulturvolle Vergnügungsstätten ihren bisherigen Nutzern, also dem kleinen Mann von der Straße, zu erhalten, sie also nicht zu touristischen Nobel-Puffs mit künstlerischen Einlagen verkommen zu lassen. Wie auch immer im Einzelfall entschieden wird, wie auch immer noch ausstehende Personalfragen gelöst werden (die Verhandlungen mit Roloff-Momins Wunschkandidaten für BE und Volksbühne, Matthias Langhoff und Frank Castorf, scheinen bis Redaktionsschluß noch nicht beendet), die entscheidenden Schritte hin zu einer Kulturhauptstadt, in der die Chancengleichheit zwischen dem West- und dem Ostteil in überschaubaren Zeiträumen hergestellt sein kann, sind getan und müssen nun, mittels Hauptstadtvertrag, auch abgesegnet werden, damit nun auch das benötigte Geld fließen kann.
Was die letzte Spielzeit - begonnen im Zwischenstadium (1. Juli bis 3. 0ktober) zwischen Währungsunion und Beitritt -, an künstlerischen Ereignissen hervorgebracht hat, haben unserer Kritiker zu summieren versucht. Man merkt, leicht ist es ihnen nicht gefallen. Zwischen zwei Spielzeiten ist festzustellen, daß die eben verflossene eher den Charakter einer Zwischen-Saison trug, im Ostteil geprägt von Unsicherheit nicht nur im materiellen Bereich, von Selbstzweifel und Identitätskrise. Manchmal schien es uns, als würde ausschließlich in der Flucht ins unverbindliche Amüsement der Ausweg gesucht, aber vielleicht haben wir auch nicht aufmerksam genug geguckt: da gab es doch immerhin der »Kampf des Negers und der Hunde« in Dresden, den »Mauser« in Greifswald, »Noch ist Polen nicht verloren« in Potsdam, da wird doch beste DDR-Theater-Tradition in den neuen Bundesländern kontinuiert; da wird auf dem Theatertreffen der Regisseur Leander Haußmann »entdeckt«, da machen Andreas Kriegenburg und andere Jung-Regisseure auf sich aufmerksam. Noch ist Polen nicht verloren ...
Castorf meint, im Augenblick dumpfe der Osten bloß vor sich hin. Einerseits ist da was dran - andererseits ist nicht nur Castorf selber ein lebendiges Gegen-Beispiel. Wir wünschen in diesem Sinne allen Kollegen an den Theatern in Ost und West eine erfolgreiche Spielzeit 1991/92!
Martin Linzer
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Artikel | Seite |
Entrée | Seite 1 |
Zwischen-Saison?von Martin Linzer | |
Autoren | Seite 2 |
Impressum | Seite 3 |
Berlin | Seite 4 |
Von der Volksbühnenbewegung zum SubventionstheaterBerliner Theater-Verhältnissevon Friedrich Dieckmann | |
Gespräch | Seite 11 |
Auf dem Weg nach Europavon Ingeborg Pietzsch und Ulrich Roloff-Momin | |
Berlin | |
Spiel ohne Gefährten?Beobachtungen an bat-Aufführungen und anderen Vorstellungenvon Jochen Gleiß | Seite 13 |
Gegenüber vom Halleschen UferDas Teatr Kreatur in Kreuzbergvon Ute Frings | Seite 17 |
Figurentheater | Seite 19 |
MalertheaterBerlinffeatr Kreatur: »Das Ende des Armenhauses«von Martin Morgner | |
Theaterkritik | Seite 20 |
Erfolgsbilanz?Theaterkritiker zur Saison 1990/91 | |
Figurentheater | Seite 24 |
Anarchisch, perfekt - wie weiter...?Eindrücke vom 7. Internationalen FigurenTheaterFestival in Erlangenvon Silvia Brendenal | |
Baden-Württemberg | Seite 28 |
Licht und Schatten im Musterländle10. Baden-Württembergisches Theatertreffen in Bruchsalvon Volker Trauth | |
Kunst in SozialpolitikGespräch mit Rolf Parchwitzvon Volker Trauth und Rolf Parchwitz | |
Schauspiel | |
BiografienTheater Greifswald: »Mauser« von Heiner Müllervon Gundula Weimann | Seite 32 |
Letztes Mittel: MordPlauen: Kriminalistisches Theaterfestvon Matthias Schmidt und Bernhard Scheller | Seite 32 |
Lear, japanisch versiert?The Super Ichiza: »König Lear« von Shakespeare im Rock-Kabuki-Theatervon Jochen Gleiß | Seite 33 |
Die real existierende HölleVolksbühne Berlin / 3. Stock: »LA FUNF in der Luft« von Alexej Schipenkovon Martin Linzer | Seite 34 |
Bürgerliches Theater der AntiaufklärungZürich / Schauspielhaus: »Der Gesandte« von Thomas Hürlimannvon Carlo Bernasconi | Seite 34 |
Furcht und Elend Hans FrölichersZürich / Vaudeville Theater: »Frölicher - ein Fest« von Urs Widmervon Carlo Bernasconi | Seite 35 |
Das verkaufte LachenBerlin / Maxim Gorki Theater: »Komiker« von Trevor Griffithsvon Ingeborg Pietzsch | Seite 36 |
Narren und OpferBadisches Staatstheater Karlsruhe: »Die Berühmten« von Thomas Bernhardvon Volker Trauth | Seite 37 |
Schweiz | Seite 38 |
Viel Alltag, nebst einigen BesonderheitenOper und Musiktheater in der Schweizvon Mario Gerteis | |
Oper | Seite 42 |
Was bleibt über's Jahr?Weitere Beobachtungen zu Mozart-Inszenierungen in Neustrelitz und Senftenherg (»Cosi fan tutte«), Genf und Halle (»Don Giovanni«), Berlin / Deutsche Oper und Halle / Bad Lauchstädt (»Titus«)von Nora Eckert, Matthias Frede, Wolfgang Lange, Uwe Hübner und Klaus Thiel | |
Musiktheater | Seite 47 |
Hoffnungen - in AktionMusikhochschulen spielen Mozart: »La finta semplice« (Berlin), »Die Zauberflöte« (Weimar), »Bastien und Bastienne« (Leipzig)von Irene Tüngler und Wolfgang Lange | |
Oper | |
Bruch zwischen »Realismus« und IronieComp Musiktheater Berlin : »Dschungel-Dschuppies« von Ramdohr (Musik) / Hacke (Text)von Jürgen Hartmann | Seite 49 |
KunstfigurHochschule für Musik» Hanns Eisler« Berlin: »Weiße Rose« von Udo Zimmermannvon Wolfgang Lange | Seite 50 |
Zar und Polit-TechnokratBayerische Staatsoper München: »Boris Godunow« von Mussorgskivon Rolf Fath | Seite 51 |
Motive - Bekenntnisse - HaltungenIm Gespräch mit Steffen Piontekvon Wolfgang Lange und Steffen Piontek | Seite 52 |
Musiktheater | Seite 55 |
Mozart, Meyerbeer, Prokofjew und eine UraufführungMusiktheaterereignisse zu den Dresdner Musikfestspielenvon Friedbert Streller | |
Ballett | |
Improvisationen und KammertanzZwei Beiträge des Dresdner Staatsopernballettsvon Dietmar Fritzsche und Werner Gommlich | Seite 60 |
Beschwerlichen Umständen trotzendBallettabende in Halle, Radebeul und Görlitzvon Werner Gommlich | Seite 63 |
Tanz | |
Vielfalt und ToleranzUtrecht / N iederlande: 15. »Spring Dance«-Festival des modernen Tanzesvon Ann-Elisabeth Wolff | Seite 66 |
Erprobte RollenspieleTanztheater Wuppertal (im Schauspielhaus): »Tanzabend II« von Pina Bauschvon Birgit Kirchner | Seite 67 |
Begegnung der GeschlechterBerlin, Komische Oper: »Frauen- Männer-Paaren« von Birgit Scherzervon Volkmar Draeger | Seite 68 |
Magazin | |
Zur Zukunft der Freien VolksbühneEin anderes Konzeptvon Wolfgang Edler | Seite 69 |
Neue Brücke zu Dialog und Verstehenvon Wolfgang Edler | Seite 69 |
Kongreß über »niederes« antikes Theatervon Ernst Schumacher | Seite 70 |
Im »Klub des neuen Dramas«Auf der Suche nach einer neuen Theatralität: Junge Stückeschreiber Moskau 1990von Ute Mann | Seite 71 |
Zeit für Oper - Götz Friedrichs Musiktheatervon Dagmar Mammitzsch | Seite 72 |
Nachrichten aus Ungarnvon Judith Szántó | Seite 73 |
Ich bin wichtig!oder: Meine Damen! Mein Herr!von Christiane Lange | Seite 73 |
Die Schaubühne - Die Weltbühne 1905-1933von Lutz Dechant | Seite 73 |
Stück | Seite 76 |
Zahngoldvon Jörg Graser | |
Gespräch | Seite 78 |
... den Wahrheitsanspruch in der Kunst aufrechterhaltenGespräch mit Jörg Graservon Jochen Ziller und Jörg Graser | |
Premieren | Seite 89 |
August 1991 | |
Spielpläne | Seite 90 |
Besetzungen | Seite 90 |
Carlo Bernasconi
Silvia Brendenal
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