
Heft 12/1991
Chemnitzer Begegnungen
Broschur mit 96 Seiten, Format: 220 x 310 mm
ISSN 0040-5418
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Schulterschluß: Aus der Zeitschrift »Kunst und Literatur« vom Oktober 1983 möchte ich einen Satz von Michail Rostschin zitieren. »Wir brauchen die Wahrheit«, hat er geschrieben, »wie seltsam es auch erscheinen mag, noch immer ist es dringend notwendig, das Weiße weiß und das Schwarze schwarz zu nennen, wozu mitunter eine geradezu phantastische Kühnheit gehört.« So vieles sich geändert hat, ich denke: das hat sich noch nicht geändert. Wiewohl die Bedingungen, unter denen wir nun zu kämpfen haben, gänzlich andere geworden sind, wiewohl die Möglichkeiten, vieles, was bislang tabu war, zu sagen, größer geworden sind - daß die Theater, daß die Künste insgesamt des Mutes dringend bedürfen, halte ich nach wie vor für eine gegebene Tatsache. Ich zitiere Heiner Müller in »Sinn und Form« 4/91: »Die Geschichte hat die Macht der Politik abgeworfen und zeigt das eiserne Gesicht des Marktes. Der Alltag fragt zu recht wieder: wer - wen? Die Teilung Deutschlands war ein Ausdruck der Teilung der Welt, die nicht aufgehoben ist mit der Einheit Deutschlands, mit der Entspannung zwischen Ost und West, und auch in Europa wird das Vakuum nach dem Verlust der Feindbilder in schwarz und weiß durch den Fall der Mauern zunehmend zum Abgrund. Indem sich Verdrängtes und Vergessenes formiert Nationalismen und Rassismen, ihr Nährboden der Hunger, die Demütigung durch den kulturellen Imperialismus der Zentralgewalt, die Frustration im Schrott der Utopien. Nach dem Ende der Ideologien muß der notwendige Dialog auf dem Boden der Tatsachen geführt werden.«
Zu fragen wäre: Sind die Ideologien in der Tat am Ende oder sind sie nicht nur undurchschaubarer, vieldeutiger? Ist die Irritation, der wir erliegen, nicht dem Umstand geschuldet, daß wir 40 Jahre lang nur einen Gegner hatten? »Den Teufel sind sie los, die Teufel sind geblieben«, sagt Goethe. Wer sind die Teufel? Sind wirs, die - nachdem der Käfig zerstört ist, sich selbst daran begeben, neue Käfige um uns, vielfältigere, reichere als zuvor, wieder aufzubauen? Ich zitiere aus der Zeitschrift »Sowjetwissenschaft«, ebenfalls aus dem Jahr 1983: »Das Ignorieren der Widersprüche, die Furcht vor ihrer Erforschung bedeutet eine Nichtachtung der Quelle der Entwicklung.«
Welche Widersprüche mißachten wir vielleicht jetzt schon wieder? Welche Ketten legen wir uns neu an? Jefremow erzählt eine wunderbare Anekdote: Er wünscht sich ein Theater, wo die Schauspieler ständig auf gepackten Koffern sitzen, weil sie Angst davor haben sollten, von der Behörde verhaftet oder davongejagt zu werden. Das scheint heute merkwürd ig antiquiert, weil man ja in diesem Lande, zu dieser Zeit straflos nahezu alles tun, sagen oder auch nicht sagen kann. Schauspieler artikulieren vergleichsweise sicher - allerdings noch zögernd, sich noch nicht ganz zurechtfindend in dieser Freiheit. Darin drückt sich die neue Situation, das neue Risiko aus, dem sich Theater gegenüber sieht, wenn es denn um seine Existenz geht, um seinen künftigen Stellenwert in der Gesellschaft, die wir - in den fünf neuen Bundesländern - im Begriff sind Wirklichkeit werden zu lassen. Aber: Alles - was ist das? Und wenn alles möglich ist, was ist dann das Notwendige?
In dem Theater dieses Landes suchen engagierte Theaterleute nach dem, was sie wieder zum Zentrum der Auseinandersetzungen macht. Zum Zentrum waren wir - Seite an Seite mit der Kirche - geworden, als es dort ein Minimum an Freiraum gab, den es auszuschreiten galt und wo man zwar Mut aufbringen mußte, aber doch einen relativ ungefährdeten Mut. Jetzt sind wir an dem »Abgrund«, von dem Heiner Müller spricht, angelangt.
Was also ist die Aufgabe des Theaters? Ich denke mir - und das ist der Weg, den wir versuchsweise in Dresden beschreiten - es ist die alte Aufgabe des Theaters, Fragen zu stellen, Patentlösungen zu vermeiden. Dabei ist schon das Fragen-Stellen schwieriger geworden. Ob es die Tatsache ist, daß die Welt, nach wie vor durchaus in der Lage ist, sich selbst abzuschaffen; die kriegerische Gefährdung des gesamten Planeten; die ökologischen Probleme; die Frage, daß mit dem Verlust des einen Gegners unendlich viele Probleme aufbrechen, von denen wir meinten, sie seien längst ausgestanden; die beklemmenden Exzesse anderen und Andersdenkenden gegenüber - sie alle beweisen: die Freiheit ist tatsächlich ein höchst risikovolles Unternehmen. Und: Der Umgang mit Demokratie ist schwierig zu lernen. Aber sich in diesen Lernprozeß einzuschalten, den Schulterschluß mit den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern zu suchen, mit ihren Autoren - ich nenne stellvertretend Rózewicz, Raditschkow, Örkeny - darin liegen Möglichkeiten für unser Theater. Zur Zeit sind wir in der Gefahr, diese kritischen Fragesteller und mutigen Künstler zu vergessen - sie, die so wesentlich an dem Demokratisierungsprozeß mitgewirkt haben, für eine Humanisierung der Welt eintraten und eintreten. Gegen dieses Vergessen gilt es zu handeln. Denn geben wir diesen Schulterschluß auf, geben wir eine ganz wesentliche Chance auf, gemeinsam und dadurch vielleicht etwas schneller in die Nähe von Lösungen der komplizierten, vor uns allen und vor der ganzen Welt stehenden Probleme zu gelangen.
Ich bin, was Theater betrifft, ein Überzeugungstäter. Ich glaube unbeirrbar an die Möglichkeit der Veränderung der Welt, auch mit den Mitteln der Kunst. Natürlich weiß ich, daß diese Veränderung lange Zeit währt, und was die Kunst und ihre Möglichkeiten anlangt, nur mittelbar geschehen kann. Aber daß es geschehen kann, darüber bin ich mir im klaren . Und daß es geschehen muß, darüber bin ich mir auch im klaren. Ich denke: Ein jeder von uns ist aufgerufen, sich in diesen Prozeß so wie früher mit der gleichen Intensität, dem gleichen Mut, der gleichen Risikobereitschaft hineinzubegeben. Wir sind nämlich nach wie vor gefordert.
Dieter Görner
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Artikel | Seite |
Entrée | Seite 1 |
Schulterschlußvon Dieter Görne | |
Sächsisches Theatertreffen | |
Chemnitzer BegegnungenÜber das sächsische Theatertreffen in Chemnitzvon Ulrich Hammerschmidt | Seite 4 |
Macht das Tor auf!Über das Osteuropa-Colloquiumvon Martin Linzer | Seite 8 |
Macht das Tor auf!Suchen ja, verzweifeln neinvon Jürgen Groß | Seite 10 |
Gespräch | Seite 11 |
Ist weiß jetzt schwarz und schwarz jetzt weiß?Rundgespräch über sowjetisches Theatervon Elke Wiegand, Alexander Galin, Michail Schwydkoj, Susanne Rödel, Oleg Jurjew und Nikolai Koljada | |
Essay | Seite 14 |
Brief aus BukarestEin Blick zurück im Zorn und nach vorn in Sorgevon Valentin Silvestru | |
Gespräch | |
Dennoch optimistisch...Gespräch mit Dumitru Solomonvon Martin Linzer und Dumitru Solomon | Seite 15 |
Mangel an MutGespräch mit Karel Steigerwald, Autor aus Pragvon Ingeborg Pietzsch | Seite 18 |
Keine Nachrichten?Gespräch mit Konstantin Iliew, Bulgarienvon Ingeborg Knauth und Konstantin Iliew | Seite 19 |
Wie weiter?Im Gespräch mit Gábor Zsámbéki, Direktor des Katona-József-Szinház in Budapestvon Ingeborg Pietzsch und Gábor Zsámbéki | Seite 23 |
Inszenierungen | Seite 23 |
Windige Typen, verlorene MenschenSchauspielinszenierungen aus Ungarnvon Ingeborg Pietzsch | |
Porträt | Seite 27 |
Kurt HübnerMotor, Mentor, Möglichmacher für das moderne Theatervon Lorenz Tomerius | |
Theater in Ostdeutschland | Seite 30 |
»... so viel im Angebot haben«Brandenburgs Theater im Neuaufbauvon Hartmut Krug | |
Schauspiel | |
SeelengiftBerlin / Schaubühne am Lehniner Platz: »Der einsame Weg« von Arthur Schnitzlervon Jochen Gleiß | Seite 33 |
KabinettsspieleBerlin / Kammerspiele des Deutschen Theaters: »Heinrich VI.« von Shakespearevon Jochen Gleiß | Seite 33 |
Geisterbahnfahrt durch die (Un)HeilgeschichteVereinigte Bühnen Graz: »Angelas Kleider« von Botho Strauß. Uraufführung im Rahmen des »steirischen herbstes«von Wolfgang Huber-Lang | Seite 34 |
Ulrike haßt HenriKleist-Theater Frankfurt/Oder, Haus der Künste / Theaterboden: »Tragödien« von Claude Prinvon Jochen Gleiß | Seite 35 |
Flott danebenUckermärkische Bühnen Schwedt: »Flucht in die Wolken« von Heike Schmidt nach Sibylle Muthesius-Bodenvon Hartmut Krug | Seite 36 |
Mehr Wort als SpielHebbeltheater: »Brut« von Zschokke: Schaubühne: »Sanftwut oder Der Ohrenmaschinist« von Gert Jonkevon Gundula Weimann | Seite 37 |
Stilsicher und konsequentNationaltheater Weimar: »Über allen Gipfeln ist Ruh« von Thomas Bernhardvon Volker Trauth | Seite 38 |
Von der Macht des LachensMecklenburgisches Staatstheater Schwerin: »Plutos« von Aristophanesvon Volker Trauth | Seite 39 |
Gegen VergessenBerliner Ensemble: »Ay Carmela!« von José Sanchis Sinisterravon Martin Linzer | Seite 40 |
AufgepepptFreie Kammerspiele Magdeburg: »Deutschlandspektakel«von Hartmut Krug | Seite 40 |
Endspiele im VergleichSchauspielhaus Bochum / Düsseldorfer Schauspielhaus »Endspiel« von Samuel Beckettvon Heinz-Norbert Jocks | Seite 41 |
Freie Gruppen | Seite 42 |
Aufbruch zu eigenen ProjektenÜber das »Theater 89« im Berliner Jo-Jo-Clubvon Stefan Pietzsch | |
Freies Theater | Seite 45 |
Szenerien in BerlinFreies Theater in Kreuzberg und Mittevon Martin Morgner | |
Puppentheater | |
Schaurig realKammertheater Neubrandenburg: »Dracula al dente«von Silvia Brendenal | Seite 48 |
Auf ein nächstes...von Silvia Brendenal | Seite 48 |
IN und OFFVom 9. Festival Mondial des Theatres de la Marionnettevon Hartmut Topf | Seite 49 |
Nachrichten | Seite 49 |
Oper | |
Mozart oder die Hohen Spielevon Waldtraut Lewin | Seite 50 |
Oper als kritische UnterhaltungDas Zeitalter des Peter Sellarsvon Nora Eckert | Seite 53 |
TV-Impressionen I: Boss Giovannivon Joachim Herz | Seite 53 |
TV-Impressionen II: Mozartsche Endspielevon Jochanaan Christoph Trilse-Finckelstein | Seite 56 |
Ein Aussteiger-Drama?Wagners »Fliegender Holländer« in Gera, Schwerin und Erfurtvon Dietmar Fritzsche | Seite 59 |
Böhmenländler ohne GlattstrichLandestheater Halle: »Die verkaufte Braut« von Smetanavon Matthias Frede | Seite 62 |
Verbotene FragenOpernhaus Zürich: »Lohegrin« von Richard Wagnervon Mario Gerteis | Seite 62 |
Regie der EffekteNiederländische Oper Amsterdam: »Mazeppa« von Peter Tschaikowskyvon Bettina-Cornelia Schmidt | Seite 63 |
PeinlichesTheater der Hansestadt Stralsund: »Die Meistersinger von Nürnberg« von Richard Wagnervon Peter Buske | Seite 64 |
Chiffren-KompilationDeutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen: »Die Zauberflöte« von Mozartvon Wolfgang Lange | Seite 65 |
Die kindhaft KoketteStaatsoper Dresden: »Lulu« von Bergvon Eckart Schwinger | Seite 66 |
Honigtropfen ErinnerungTheater des Westens Berlin: »Follies« von Sondheimvon Wolfgang Lange | Seite 67 |
Gespräch | Seite 68 |
Das Universum ist die eigne PersonIm Gespräch mit Johannes Bönig, Ballettdirektor, Semperoper Dresdenvon Volkmar Draeger und Johannes Bönig | |
Oper | Seite 71 |
GruppenkörperOper Leipzig: Ballettpremiere »Die Schöpfung«von Volkmar Draeger | |
Gespräch | Seite 72 |
Eine gewissen EnergieIm Gespräch mit Uwe Scholz, Ballettdirektor, Oper Leipzigvon Volkmar Draeger und Uwe Scholz | |
Tanz | |
Aufforderung zum TanzDeutsches Nationaltheater Weimar: »Ballett-Gala« von Udo Wandtke / Patrizio Martinez / Harald Wandtkevon Dietmar Fritzsche | Seite 74 |
Reise nauh innenTanztheater im Staatsschauspiel Dresden / Kleines Haus: »Fluchtlinien« von Arila Siegert / Mary Wigmanvon Dietmar Fritzsche | Seite 75 |
Arme VerrückteDeutsche Oper Berlin: »Different Drummer« - Ballett von Kenneth MacMillan (nach» »Woyzeck« von Büchner / Webern / Schönbergvon Dietmar Fritzsche | Seite 76 |
Magazin | |
Jetzt Flagge zeigenGespräch mit Intendant Michael Muhrvon Volker Trauth und Michael Muhr | Seite 77 |
Satire, sinnlichkeit und... Bluffsvon Barbara Fuchs | Seite 78 |
Wolfgang Jansen: »Das Variete« Reihe »Beiträge zu Theater, Film und Fernsehen aus dem Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität zu Berlin«Bd. V - Edition Hentrich, Berlin 1990, 296 Seiten, 321 Abb , 58,00 DMvon Jochen Gleiß | Seite 79 |
Vorschau | Seite 79 |
Januar 1992 | |
Stück | Seite 80 |
Kleiner Progrom im Bahnhofsbuffetvon Oleg Jurjew | |
Premieren | Seite 88 |
Dezember 1991 | |
Spielpläne | Seite 89 |
Dezember 1991 | |
Besetzungen | Seite 93 |
Ur- und Erstaufführungen | |
Anzeigen | Seite 95 |
Johannes Bönig
Silvia Brendenal
Peter Buske
Volkmar Draeger
Nora Eckert
Matthias Frede
Dietmar Fritzsche
Barbara Fuchs
Alexander Galin
Mario Gerteis
Jochen Gleiß
Dieter Görne
Jürgen Groß
Ulrich Hammerschmidt
Joachim Herz
Wolfgang Huber-Lang
Konstantin Iliew
Heinz-Norbert Jocks
Oleg Jurjew
Ingeborg Knauth
Nikolai Koljada
Hartmut Krug
Wolfgang Lange
Waldtraut Lewin
Martin Linzer
Martin Morgner
Michael Muhr
Ingeborg Pietzsch
Stefan Pietzsch
Susanne Rödel
Bettina-Cornelia Schmidt
Uwe Scholz
Eckart Schwinger
Michail Schwydkoj
Valentin Silvestru
Dumitru Solomon
Lorenz Tomerius
Hartmut Topf
Volker Trauth
Jochanaan Christoph Trilse-Finckelstein
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