
Heft 05/1999
Ein neues Stück zum Krieg?
Vorabdruck Biljana Srbljanović
Broschur mit 112 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
"Nennen wir es mal Krieg" (Rudolf Scharping, Verteidigungsminister): Panta rhei, sagten die alten Griechen, alles fließt - uns fließt die Zeit weg. Die "events" jagen einander, man kann sie nicht mehr greifen, geschweige begreifen. Haben wir soeben noch Christoph Schlingensiefs Ausrufung der "Berliner Republik" zu erfassen versucht, hat der medienabhängige Initiator - bei Redaktionsschluß - schon das Handtuch geworfen, allen gedankt, die "ihre Geduld mit ihm verloren " hätten. Nun kann man sich ein Theater ohne Schlingensief notfalls vorstellen, aber kann man sich ein (Bundes)Land ohne Theater vorstellen? Einige offenbar schon. Wir können nur warnen, die Situation (des heutigen Tages) reflektieren, Stimmen der BetroffeOnen sammeln: was einem "Kulturminister", was gestreßten Kommunalpolitikern dazu noch einfallen wird, das wissen wir (heute noch) nicht.
Der Nato-Einsatz in Jugoslawien geht - bei Redaktionsschluß - in die fünfte Woche, ein Ende ist jedoch nicht abzusehen. Die abendlichen Fernsehbilder betrachtet man von Tag zu Tag ungerührter, während inzwischen "Krieg" genannt wird, was eben noch "Kampfeinsatz" hieß oder "Druckmittel" zur Lösung einer nicht gelösten politischen Aufgabe. Nun haben bekanntlich die Bomben der Alliierten im Zweiten Weltkrieg kein einziges KZ befreit, und die Bomben der Nato - die, beiseite gesprochen, mehr kosten als die gesamten Theater der Republik die Vertreibungen im Kosovo nicht gestoppt, eher angeheizt. Daß man nicht dulden könne, daß vor der eigenen Haustür ein "Wahnsinniger" Teile seines eigenen Volkes ausrotte, empören sich Politiker besonders gern. Ist es zynisch zu argwöhnen, der Akzent läge auf der "Haustür", und die Empörung wäre weniger eindrucksvoll, wenn - im Wortsinn, durchaus - "fernab in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen"? Geht es denn noch um die Verhinderung einer "humanitären Katastrophe", die längst eingetreten ist, oder nur noch um einen Machtkampf, der einen "Sieger" braucht, um zu enden? Macht und Geist, der scheinbar ewige Dualismus. Die vereinte Intelligenzija ist so zerstritten wie vereint in ihrer Ratlosigkeit, und die ehrlichsten geben ihre Ratlosigkeit zu. In dieser scheinbar ausweglosen Konstellation, erinnert uns Daniela Dahn (Berliner Zeitung, 17. /18 . April), ist es "höchst gefährlich, wenn Vernunft durch Moral ersetzt wird. Also Gesetze, Charten, Verträge, Verfassungen, Statuten - durch Empörung". Denn Moral wäre so ein merkwürdiges Ding, das "per Definitionshoheit" immer auf der eigenen Seite sei. Aber was wäre denn heute - und auch nach Redaktionsschluß - Vernunft? Die den Wahnsinn des - offenbar erfolglosen - Nato-Einsatzes ebenso stoppt wie das Verbrechen der "ethnischen Säuberung", die lange begann, bevor die Politik daran ging, ihre Schulaufgaben zu machen - bisher ebenso erfolglos.
Als "Theater der Zeit" vor genau sechs Jahren sein erstes Heft in neuer Herausgeberschaft, mit neuem Konzept als "Zeitschrift für Politik und Theater" auf den Markt brachte, enthielt es Goran Stefanovskis Stück "Sarajevo", und nicht, weil wir es für ein besonders exklusives Stück Literatur hielten. Die Zeit rennt. Heute erscheint es uns als ein Stück gutgemeinter Folklore, wenn wir es vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Ereignisse lesen. Vor einem Jahr entdeckten wir Biljana Srbljanovićs "Belgrader Trilogie", in Jugoslawien inzwischen verboten, in Deutschland bisher leider nur unzulänglich realisiert (siehe Seite 91): ein Exkurs über die innere Selbstzerstörung eines Volkes in Zeiten nationalistischer Amokläufe. Auf den folgenden Seiten drucken wir die erste Szene aus der Arbeitsfassung ihres neuesten Stücks ab - "Der Sturz". Die unausweichliche Perspektive, wenn "Vernunft" sie nicht verhindert, sind die "Verbrechen des einundzwanzigsten Jahrhunderts", Edward Bonds apokalyptisches Szenario. Womit wir unsere Leser nicht schocken wollen, allenfalls in ihrer Sensibilität schärfen. Nicht der hat unbedingt Recht, der am besten die "Moralkeule" schwingt (oder am abgebrühtesten die Videobilder getroffener "Kriegsziele" zelebriert) - und die menschliche Solidarität ist unteilbar: Sie hat den vertriebenen Kosovaren zu gelten wie der von einer skrupellosen Führung betrogenen und verhetzten serbischen Bevölkerung, die genauso zu den Verlierern in diesem "Krieg" gehören wird, und nicht mit den Mordbanden des "Tigers" Arkan identifiziert werden darf.
Politik ist die Kunst, Alternativen zu schaffen, Kunst kann solche Prozesse begleiten, durch Beobachtung, Beschreibung, Appelle, Visionen, auch durch Visionen des Grauens - die uns zu rechtzeitiger Umkehr und Einkehr gemahnen.
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Editorial | Seite 1 |
"Nennen wir es mal Krieg"(Rudolf Scharping, Verteidigungsminister) | |
Essay | |
Kein Stück zum Film vom Kriegvon Michael Börgerding | Seite 4 |
Aufklärung oder Die Kultur des KapitalismusEin Shakespeare-Kommentarvon Dirk Baecker | Seite 6 |
In einem schillernden Sinn wenig anschaulichChristoph Schlingensiefs "Berliner Republik" in der Volksbühnevon Thomas Krüger | Seite 12 |
Kulturpolitik | |
In Staub mit allen Freunden Brandenburgs?von Barbara Engelhardt und Thomas Irmer | Seite 16 |
"Drei Behinderte sind zusammen noch kein Gesunder"Die Redaktion im Gespräch mit den Intendanten Manfred Weber (Frankfurt/Oder) und Ralf-Günter Krolkiewics (Potsdam)von Barbara Engelhardt, Nikolaus Merck, Thomas Irmer, Manfred Weber und Ralf-Günter Krolkiewicz | Seite 17 |
Haftender Name, flüchtiger SinnVon Anfang und Ende des Berliner Ensemblesvon Friedrich Dieckmann | Seite 20 |
Eine Woche in... | Seite 24 |
Entspannte Atmosphäre zwischen "Chaostagen" und "Expo 2000"Eine Woche in Hannovervon Thomas Irmer | |
Essay | Seite 30 |
Passende Worte. Ein Berichtvon Simone Schneider | |
Porträt | Seite 32 |
"Eine Ophelia der Birkenwälder"Über die Schauspielerin Johanna Wokalekvon Heinz Kluncker | |
Ausbildung | |
Treffpunkt für TheaternomadenGespräch über die "Theater-Akademie Ruhr" mit Hannah Hurtzig und Barbara Engelhardtvon Barbara Engelhardt und Hannah Hurtzig | Seite 37 |
Edel sei der Mensch, horror und gutDie 5. Zonenrand-Ermutigung in Cottbusvon Martin Linzer | Seite 40 |
Stadttheaterreport | Seite 44 |
Shakie-Rap und Monologe in Mannheimvon Otto Paul Burkhardt | |
Freies Theater | Seite 48 |
Bilderloses Licht"Mythos Europa" von Jörg Laue / Lose Combovon Christel Weiler | |
Kindertheater | Seite 50 |
Der Truthahn sprichtPorträt des Kinder- und Jugendtheaters Tübingenvon Tristan Berger | |
Ausland | Seite 54 |
Kunst? Kommerz? Konzept?Festival des Experimentellen Theaters in Shanghaivon Antje Budde | |
Stück | |
Sarah Kane und Theatervon Edward Bond | Seite 60 |
DAS VERBRECHEN DES EINUNDZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTDeutsch von Brigitte Landesvon Edward Bond | Seite 62 |
Auftritt | |
Michel Vinaver, gleich zweimal am Thèâtre de la CollineParisvon Barbara Engelhardt | Seite 80 |
Bewegung in NiederösterreichLinzvon Wilfried Passow | Seite 82 |
Grunderneuerung mit Regula GerberBielefeldvon Jörg Buddenberg | Seite 83 |
Drei Inszenierungen am LTTTübingenvon Otto Paul Burkhardt | Seite 85 |
"Safe" von God Squad und Christoph Marthalers "Die Spezialisten"Hamburgvon Stefan Grund | Seite 87 |
"Die Unbekannte mit dem Fön" / "Die heilige Johanna der Schlachthöfe"Magdeburgvon Evelyn Finger | Seite 88 |
Uraufführung von Christoph Heins "Bruch"Düsseldorfvon Terry Albrecht | Seite 89 |
Englische Stücke am Grillo-Theater, "Belgrader Trilogie" von Biljana SrbljanovicEssenvon Ulrich Deuter | Seite 90 |
Ernst M. Binder inszeniert "Die Phönikerinnen"Schwerinvon Stefan Grund | Seite 92 |
Die Uraufführung von Simone Schneiders "Ägypter"Leipzigvon Nikolaus Merck | Seite 93 |
"Wassa Shelesnowa" von Maxim GorkiSchwedtvon Oliver Kranz | Seite 94 |
Experimentelles Musiktheater mit "bonn chance!"Bonnvon Frank Kämpfer | Seite 95 |
"Parzival" als musiktheatralisches GemeinschaftsprojektGießenvon Nora Eckert | Seite 97 |
Peter Konwitschny inszeniert Verdis "Macbeth"Grazvon Thomas Irmer | Seite 98 |
Premierenkalender | Seite 101 |
Premieren im Mai und Juni | |
Magazin | |
Die 17. Bayerischen Theatertage in Bambergvon Ricarda Bethke | Seite 104 |
Das Theater und sein Publikumvon Martin Linzer | Seite 105 |
NachrufBoleslaw Barlog (1906-1999)von Heribert Sasse | Seite 105 |
NachrufRolf Ludwig ist totvon Martin Linzer | Seite 106 |
BücherDas Deutsche Theater / Eine geschichte in Bildern von Alexander Weigel, Propyläen Verlag, Berlin 1999, 4000 S.von Martin Linzer | Seite 107 |
BücherArmin Stolper: Wir haben in der DDR ein ganz schönes Theater gemacht, Verlag Das Neue Berlin, 1999, 256 S.von Birgitt Westphal | Seite 107 |
BücherUte Kröger / Peter Exinger: "In welchen zeiten leben wir!" - Das Schauspielhaus Zürich 1938-1998, Limmat Verlag Zürich 1998, 463 S.von Christa Neubert-Herwig | Seite 108 |
BücherUwe-K. Ketelsen: Ein Theater und seine Stadt. Die Geschichte des Bochumer Schauspielhauses, SH-Verlag Köln, 205 S.von Ulrich Deuter | Seite 109 |
BücherKurt Böwe / Hans-Dieter Schütt: Der Unfungladen oder Endlich Schluß mit dem Theater? Das Neue Berlin, 1999, 192 S.von Martin Linzer | Seite 110 |
BücherPeter Biele: Das war's, meine Lieben / Traute Richter - Die Dresdner Schauspielerin in ihren Briefen (2. Band), Dingsda-Verlag, Querfurt 1999, 160 S.von Martin Linzer | Seite 110 |
Meldungen | Seite 111 |
Impressum | Seite 112 |
Autoren | Seite 112 |
Terry Albrecht
Dirk Baecker
Tristan Berger
Ricarda Bethke
Edward Bond
Michael Börgerding
Antje Budde
Jörg Buddenberg
Otto Paul Burkhardt
Ulrich Deuter
Friedrich Dieckmann
Nora Eckert
Barbara Engelhardt
Evelyn Finger
Stefan Grund
Hannah Hurtzig
Thomas Irmer
Frank Kämpfer
Heinz Kluncker
Oliver Kranz
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