Niemand sagt in Anne Imhofs Arbeit im Deutschen Pavillon zum Augenblick „Verweile doch, du bist so schön“ – diesen Zustand kennen die Performerinnen und Performer in diesem „Faust“ genannten Stück nicht. Von Goethes Dramentext wird kein Satz gesprochen und keine seiner Figuren tritt auf. Der „Scheißfaust“, den Peter Handke gerne davon erlösen würde, auf rastlose Weise immerfort tätig zu sein, kommt in Imhofs Arbeit nicht vor. Vielmehr sind in Venedig Gestalten zu sehen, die ihre Seele erst noch finden müssen. Der Deutsche Pavillon ist das Zwischenreich, wo sie als Zombies ans Licht kommen, mitten unter uns, um Blut zu trinken wie Odysseusʼ Mutter am Ausgang des Hades; das Blut, das sie begehren, ist unser sie betrachten.

Anne Imhofs Stück zeigt die Faustfigur als Symptom einer Zeit, in der das Subjekt immer nur werden muss und nie sein kann. Dieser Stimmung schafft sie einen Raum, in dem auch der Zuschauer nie nur Betrachter sein kann, sondern mitschaffen muss und Teil wird einer dynamischen Situation, in der sich die Ge-schehnisse, die eigene Lage und Umgebung ständig in Echtzeit verändern. Imhofs Arbeit akzentuiert eine selten so klar empfundene Doppelnatur der Faustfigur – ihre Unerfülltheit geht einher mit dem Verlust ihre sozialen Bindungen, zugleich aber ist sie äußerst beziehungsreich mit der Welt vernetzt. Imhofs Mephisto ist das Smartphone – immer zur Stelle, willfährig und verführerisch zugleich, stellt es die Verbindung her zu einem Reich schier unbegrenzter Möglichkeiten, jenseits von Raum und Zeit. Das Smartphone überwacht und steuert, es ist offensichtlich Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und Böses schafft. Imhof selbst trägt als heimliche Regisseurin eines bei sich, aber auch die Performerinnen und Performer im Raum halten Smartphones in der Hand. Ohne dieses kleine, allesverbindende Gerät könnte sich der Wille der dämonischen Regie nicht realisieren, genauso wenig wie die Performer sich von ihm auch nicht unabhängig machen könnten, um während der kurzen Ruhephasen zum Beispiel ihre Nachrichten zu checken. Anne Imhofs Regie bleibt die ganze Zeit anwesend, ist aber nicht sichtbar. Die Künstlerin läuft inmitten der Besucher, gekleidet wie sie, mit ihrem Smartphone in der Hand umher und dirigiert die Performer, führt sie im Deutschen Pavillon in den Untergrund, hinaus in die Natur, unter die Bäume, in einen Zwinger mit Wachhunden oder mitten unters österlich wandelnde Volk. Aber die Autorenschaft all dieser Vorgänge bleibt verborgen.
Wie Goethes Faust sind Imhofs Figuren erfüllt von einer seltsamen Emphase, wirken berauscht und stehen hautnah vor uns, sind aber zugleich unerreichbar fern und zeigen keine Form von seelischer Resonanz auf all das, was um sie herum geschieht. Imhofs Wiedergänger dieser deutschesten aller Bühnenfiguren sind, wie in Goethes Stück, radikal jung und ihre Gestalt, das Bild, das sie erzeugen, hat die Verse gänzlich ersetzt – ihr Spiel ist eines der rätselhaften leiblichen Präsenz: immer auf der Schwelle zwischen Pose und Natur, Virtualität und echtem Leib. Diese changierende Anwesenheit beruht sowohl auf einem Verhaltenscodex der Coolness, wie auch einer speziellen Körperlichkeit der Performer, die sich durch eine fast schon genormte Abweichung oder Andersheit auszeichnet – sie wirken wie urbane Athleten oder Computerspielkrieger, halb glatte, antike Plastik, halb typisches Balenciaga-Modell.

Juliane Rebentisch verbindet in ihrem Essay „Dark Play“ im Begleitbuch der Biennale diesen ständig auf Produktion ausgerichteten Daseinszustand des faustischen Menschen mit jener Performance, die der Projektkapitalismus dem Individuum auferlegt – nicht nur smart zu funktionieren, sondern eine Abweichung vom Üblichen zu produzieren, die gerade im Dysfunktionalen potenzielle Reserven anzeigt, die in der Zukunft zur Entfaltung kommen können und so Zukunft schaffen. Es ist diese feine, persönliche Rätselhaftigkeit, die ein verborgenes Potenzial verspricht – irgendetwas ist anders an diesen Leuten, die Anne Imhof als Gesichter unserer Zeit zeigt, aber auch als Produkte unserer Zeit, der Medien und Industrie. So ist die Coolness des abweichenden Subjekts einerseits halb Macke, halb Geschlagenheit, halb aber auch laszives Kapital, ein körperpolitischer Einsatz im Spiel um Bedeutung und Einfluss, die nur da entstehen, wo es Reserven gibt.
Statt Goethes Drama aufzuführen, übersetzt Anne Imhof seine zentrale Frage in einen Zustand, der unerhört radikal in der Form ist und im Deutschen Pavillon eine Art Limbus schafft, den wir als Besucher betreten, um verunsichert zu realisieren, dass hier niemand nur Zuschauer ist, sondern auch Verursacher, aufs Unheimlichste angesprochen und zugleich abgestoßen, mittendrin und doch nie zusammen. Man kann Imhofs Stück in gleicher Weise als Performance wie auch als Ausstellung betrachten – als ein Hybrid von beidem ist sie ein neues Format, etwas, das die Kunsthistorikerin Dorothea von Hantelmann einen „individualisierten Aufführungsraum“ nennt.