Kolumne
Im Rückwärtsgang ins Morgen
Über künstlerische Freiheit und das sperrige Material Gegenwart
von Kathrin Röggla
Was die Kunst braucht, einzig und allein, ist Material – Freiheit braucht sie nicht, sie ist Freiheit; es kann ihr einer die Freiheit nehmen, sich zu zeigen – Freiheit geben kann ihr keiner.“ Dieses Heinrich-Böll-Zitat kam mir vor einiger Zeit durch die Feder des Komponisten Helmut Oehring entgegen und hat mich beschäftigt. Schließlich wirkt angesichts der Bedrohung der Freiheit der Kunst an so vielen Orten der Gedanke, Freiheit hinzufügen zu wollen, zunächst abwegig, er wirkt wie eine Verkehrung, eine merkwürdige Dialektik, die uns aber ins Herz mancher Debatte führt. Heute sieht mich der Begriff „Material“ böse an. Ja, was machen, wenn das Material sich ständig abwendet? Wenn es sich entzieht, weil es immer schon weiter ist?

Die Sache ist nämlich die: Während die Debatte um eine Totalitarismus-Live-Experience des russischen Regisseurs Ilya Khrzhanovsky, veranstaltet von den Berliner Festspielen im Zentrum der Stadt, gleichermaßen unter dem Titel „Immersion“ und der Flagge „Freiheit“ läuft, „DAU Freiheit“ genannt, rennen Menschen aus Chemnitz oder dem Umland, dem berühmten Chemnitzer Hinterland, groß wie die Bundesrepublik, Hitlergrüße zeigend über die Straße und sagen dann, das seien nicht sie gewesen, sondern Linke, denn sie wüssten ja (im Unterschied zu jenen), ein Hitlergruß koste 7000 Euro. Sogenannte Wutbürger werden danach zu einem Gespräch mit ihrem Ministerpräsidenten geladen, während Alexander Gauland von dem „normalen Ausrasten“ spricht, ein Justizbeamter hat derweil einfach einen Haftbeschluss veröffentlicht, der Linken-Vorsitzende Dietmar Bartsch spricht im Radio von Staatsversagen, und wir sitzen davor und sagen: Das ist ja alles nachvollziehbar, aber doch ein verrücktes Vokabular für einen Linken – wieso? – weil: Wo kommt der Begriff her, wo will er hin?
Wir sitzen in der Radioküche und haben uns bereits die richtige Bezahlung für Polizisten überlegt. Die Aufstockung des Justizapparates. Weit sind wir damit nicht gekommen und jetzt klingeln die Ohren. Alles ist richtig und klingt doch so falsch. Als gäbe es nur dieses neoliberale Narrativ, dem das rechte Narrativ gegenübersteht, an das sich dann alles zwanghaft andocken muss. (Ein typischer Dialog wäre: „Warum verwenden Sie die Begriffe der Rechten? – Wie? Soll ich nicht mehr beschreiben, was los ist? Ich lass mir doch nicht von den Rechten die Sprache diktieren!“), während wir vor uns hin murmeln, „dass die bürgerlichen Werte, und das sage ich als Linker, in unserem Lande wieder gelten“, um Herrn Bartsch erneut zu zitieren. Die bürgerlichen Werte, darunter läuft vermutlich auch die Freiheit der Kunst. Insgesamt könnte man dies alles als gewaltige Ohnmachtsposition beschreiben, aus der kein Rauskommen wäre, doch jetzt gibt es nicht nur den durchaus zu erwähnenden Gegen protest auf der Straße, es entstehen regelrechte Bewegungen. Ein paar Meter weiter nämlich finden wir zum Beispiel Bernd Stegemann als Vorsitzenden der Sammlungsbewegung „Aufstehen“, Wolfgang Engler ist auch dabei, dessen Soziologenkollege Wolfgang Streeck und der Schriftsteller Ingo Schulze. Sehen wir auch ihnen beim Grenzschutz zu, auf den sie nur am Rande hinauswollen? Angeblich geht es ihnen hauptsächlich um soziale Gerechtigkeit und nur ein klein wenig mehr um Putinnähe oder doch nicht? Das Programm wurde gerade erst öffentlich gemacht, die Sache ist noch sehr in Bewegung. Zu diesem Zeitpunkt. Der gleich wieder vorbei ist. Wir bleiben zurück und überlegen: Kann man gleichzeitig unterschreiben (denn ich will ja die Linke wieder ans Tageslicht befördern, vielleicht erwächst daraus ja was Brauchbares – siehe Frankreich) und nicht unterschreiben?
Na, werden Sie sagen, mit diesem Gedanken ist schon wieder etwas Hoffnung auf ein wenig Bürgerlichkeit verlorengegangen, die vielleicht noch zwischen den immer häufiger werdenden Bezahlvorgängen sitzen könnte, also: Raus auf die Straße, „#unteilbar“ ruft! Die Kunst allerdings muss um ihre Bedingungen zittern, der Satzteil Bölls, in dem es um das „der Kunst die Freiheit nehmen, sich zu zeigen“ geht, kommt zum Vorschein. Die Destruktionskräfte bündeln sich, während mein derzeitig überaus konkretes Problem als Dramatikerin das einer ständigen Diskursverschiebung ist – nichts kann mehr künstlerisch gesagt werden, ohne dass der Diskurs im Moment der Äußerung nicht schon längst woanders gelandet ist und das Gesagte ins neue Licht rückt. Die Arbeitsgeschwindigkeiten zu erhöhen, dies ist schiefgegangen, denn wenn die Aussagen Struktur haben sollen, die aus einem eher komplexer werdenden Material erwächst, dann empfiehlt es sich nachzudenken, es sei denn, man folgt dem abstrusen wie hybriden Gedanken, die Ereignisse, wie bei DAU geplant, gleich selbst zu schaffen, das Material selbst zu schaffen. Der Rückwärtsgang ist einfach komplizierter, und die künstlerische Reaktion in Zeiten des Rückwärtsgangs muss seine Einfachheit und Evidenz erst finden. Selbst hier. Es sind Briefe von gestern, die auch Sie hier und jetzt lesen, aber, da gebe ich der guten alten Dialektik recht, sie sind nur dann brauchbar, wenn ich die Beziehung zu einem Morgen aufrechterhalte, ohne mich der Überraschungen zu entledigen, die dieses „Morgen“ für uns bereithält. Und tatsächlich ist dies die mühsamste künstlerische Arbeit, die man sich derzeit vorstellen kann. //