Magazin
Der lange Schatten des Stalinismus
Unter dem Titel „DDR neu erzählen!“ wird am Berliner HAU über das Geschichtsbild des Ostens diskutiert
von Jakob Hayner
Manches braucht seine Zeit. So beginnen sich dreißig Jahre nach der Öffnung der Grenze auch die Debatten über die DDR zu öffnen. „DDR neu erzählen!“ heißt es – selbstbewusst mit Ausrufungszeichen versehen – Mitte März im Berliner HAU Hebbel am Ufer bei der zentralen Diskussionsveranstaltung des Festivals „Comrades, I Am Not Ashamed of My Communist Past – Erinnerungspolitik 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer“, bei dem Stücke wie She She Pops „Schubladen“ und „little red (play): ‚herstory‘“ von andcompany&Co. gezeigt wurden. Schon am Wochenende zuvor hatten die Berliner Festspiele den Palast der Republik wiederauferstehen lassen, zahlreiche Gäste – Intellektuelle aus aller Welt – diskutierten über das Ende der DDR und die fortschrittlichen Ideen der Demokratisierung des Sozialismus, die an den Runden Tischen damals zwar erörtert, aber nicht verwirklicht worden waren. Verpasste Gelegenheiten sind auch verlorene Utopien. Und auf die Runden Tische folgten die forcierte Währungs- und Wirtschaftsunion, der übereilte Beitritt zur BRD und die wenig rühmliche Geschichte der Privatisierung und Abwicklung einer gesamten volkseigenen Wirtschaft durch die Treuhand. Aus der DDR wurde Geschichte gemacht – und als solche wurde sie Gegenstand erbitterter Debatten und Kämpfe um die Deutungshoheit.

Im HAU eröffnete die Historikerin Carola S. Rudnick die Debatte. 2011 erschien ihr Buch „Die andere Hälfte der Erinnerung“ über die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989. Sie attestiert, dass die Aufarbeitung der DDR durch einen verengten Blick geprägt ist. Stalinismus und Staatssicherheit – so lasse sich das vorherrschende Geschichtsbild des sozialistischen Staates auf zwei Schlagwörter bringen, die zudem die Wertung gleich mitliefern. Dominiert wurde dieses Bild nicht durch die Geschichtswissenschaft, sondern vor allem durch Opferverbände und Politiker. 1992 und 1995 wurde im Bundestag jeweils eine Enquete-Kommission eingerichtet, aus denen die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hervorging – etwas Vergleichbares gibt es in Bezug auf die Naziverbrechen nicht. Die Bundesstiftung ist, obwohl dort kaum akademische Historiker tätig sind, finanziell großzügig ausgestattet, im Gegensatz zur universitären DDR-Forschung. Das führt, wie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk 2016 feststellte, zu einer staatlichen Monopolisierung nichtakademischer Geschichtsschreibung. Die Aufarbeitung sei gescheitert, schlussfolgerte er. Folgt man Rudnicks Argumenten, bestätigt sich dieser Eindruck. Die Geschichte der DDR werde entkontextualisiert und gerade in Bezug auf die BRD nachträglich entflochten. Auch der Mythos der friedlichen Revolution blende wichtige politische Entscheidungen, in Ost wie West sowie auf weltpolitischer Ebene, aus.