
Heft 08/2005
double 06
Anderes Theater in Berlin
Rückstichheftung mit 40 Seiten, Format: 210 x 280 mm
Dieses Heft ist leider vergriffen und nur noch als PDF erhältlich.
Berlin - Zentrum des anderen Theaters: „An mehreren Tagen der Woche sieht man in Berlin vor diesem oder jenem Hause einen viereckigen Kasten, auf welchem transparent das anspruchslose Wort: ,Figuren=Theater' zu lesen ist. Ich habe mich immer gewundert, warum Dichter und Kritiker diese Institution so wenig beachtet haben; sie greifen augenscheinlich in das Volksleben, und würden tief in dasselbe greifen, ließen sich die vornehmen Musensöhne herab, für sie zu dichten und ihre Leistungen zu besprechen. ... Dazu kommt, daß die Figuren=Theater in vieler Hinsicht den Menschentheatern vorzuziehen sind, auf welchen letzteren fast ohne Ausnahme Kabale und Liebe, Arroganz und Schachergeist die besten Früchte im Keim ersticken, die schönsten Talente untergraben und die mittelmäßigen ihrer Waden wegen in die Höhe bringen. In den Figurentheatern dagegen haben die Directoren immer Energie, Klugheit und Bindfaden (auf berlinisch: Strippe) genug, ihre Mitglieder in Ruhe und Ordnung zu erhalten ..." (Adolf Claßbrenner, Puppenspiele, 1836)
Es hat sich viel geändert in Berlin und im Puppen- und Figurentheater, seitdem Adolf Glaßbrenner unter seinem Pseudonym Ad. Brennglas das 9. Heft seiner Reihe „Berlin wie es ist und trinkt" mit dem Titel „Puppenspiele" herausbrachte, worin er mit genauem Blick das Puppentheater und seine Zuschauer als ein Phänomen der Volkskultur beschrieben hat. Wenig geändert hat sich jedoch bis heute an der gesellschaftlichen Reputation, die das Puppen- und Figurentheater genießt - es war und ist das andere Theater, jenseits der Hochkultur und der Hochkulturförderung.
Berlin als Stadt des Puppentheaters hat literarische und publizistische Spuren hinterlassen, seit die Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Puppenspiel entdeckt haben. Oft sind daher in der Folge Uhland, Kerner, Tieck, Eichendorff und andere als Kronzeugen zur Legitimierung des Puppentheaters als Kunst aufgerufen worden. Und obwohl sich an der gesellschaftlichen Wertschätzung des Puppen- und Figurentheaters bis heute nur wenig geändert hat und die Klischees vom Puppenspiel als Kaspertheater und Kinderbelustigung noch immer die öffentliche Meinung über diese Kunst prägen, haben sich das Puppen- und Figurentheater und das Objekttheater zu einer der modernsten und avanciertesten Künste entwickelt. Dass diese Kunstform längst nicht mehr als populäre Kunst zu bezeichnen ist, wie das im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch der Fall war, mag man bedauern, dass es dagegen eng mit den Entwicklungen der modernen Performancekunst mit ihrem interdisziplinären Denken verknüpft ist, kann als ein Qualitätsbeleg dienen, der wichtiger ist als ungebrochene und breite Popularität.
Berlin ist eine Stadt, von der vielfältige künstlerische Impulse ausgegangen sind und auch weiterhin ausgehen. Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Stadt auch zu einem Zentrum des Puppen- und Figurentheaters entwickelt. Mit einer überaus reichen und vielgestaltigen freien Szene in Westberlin, mit den Versuchen der Werkstatt Spiel und Bühne an der damaligen Hochschule der Künste, mit der Hochschulausbildung von Puppenspielern an der Abteilung Puppenspielkunst der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch" oder mit der Gründung des ersten freien Theaters der DDR, der Gruppe Zinnober - Berlin war Zentrum der Kunst des Puppen- und Figurentheaters in Deutschland. Was sich in dieser Stadt an Entwicklung dieser Kunst vollzogen hat und vollzieht, konnte und kann sich an keinem anderen Ort Deutschlands ereignen.
In den vergangenen 15 Jahren seit der deutschen Vereinigung hat sich Berlin zunehmend auch international als Knotenpunkt für die Entwicklung dieser Kunst profiliert. Die Überschreitung von traditionellen Genregrenzen und die Etablierung des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters als experimentelle Kunstform haben Berliner Künstlerinnen und Künstler zu maßgeblichen Akteuren in einem europäischen und globalen Netzwerk dieser Kunst gemacht, dadurch sind aber auch viele ausländische Künstlerangeregt worden, nach Berlin zu kommen und hierzu arbeiten.
Gleichzeitig ist es in Berlin äußerst schwer, die finanzielle Grundlage für die freie Theaterarbeit zu sichern. Zu viele Theater scharen sich um den viel zu kleinen Topf von Fördermitteln. Diese Ambivalenz der Bedingungen für die künstlerische Produktion des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters in Berlin zieht sich als Grundgedanke durch ziemlich alle Beiträge des Thementeils in diesem Heft. Dass sich dennoch so viele auf diese Bedingungen einlassen und Berlin als Lebens- und Arbeitsort gewählt haben, hängt wohl auch damit zusammen, dass der Berliner, wie schon Glaßbrennerwusste,zu überleben weiß und mit Witz immer das Beste aus einer Situation zu machen versteht. Offenkundig haben sich die Zugereisten von dieser Berliner Mentalität anstecken lassen. Berlin ist also ein Zentrum des anderen Theaters nicht wegen seiner Kulturpolitik, sondern trotz dieser Politik.
Gerd Taube, Silvia Brendenal
"Sommernachtstraum - reorganisiert", Christoph Bochdansky (Wien) und Figurentheater Wilde&Vogel (Stuttgart). Foto: Charlotte Wilde
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Thema | |
Zwischen Durchlauferhitzer und ErbhofOder: Der Berliner Markt der „Freien“ ordnet sich neuvon Astrid Griesbach | Seite 4 |
Überlebens-KunstBerlin als künstlerische Home-Basevon Uta Gebert | Seite 6 |
Mensch & FigurEin Porträt des Fliegenden Theaters Berlinvon Ulla von Fersen | Seite 8 |
Das Theater lebenVon der Berliner Gruppe Zinnober zum Theater o.N.von Hartmut Mechtel | Seite 11 |
Ein schöpferischer OrtDie SCHAUBUDE Berlin im Spagat zwischen Spiel- und Produktionsstätte - Gesprächvon Gerd Taube und Silvia Brendenal | Seite 14 |
Das Ensemble potenziert die KreativitätAusbildung zum Puppenspieler in Berlin. Gerd Taube unterhält sich mit vier Studierenden in Berlinvon Gerd Taube | Seite 17 |
Festivals | |
Die Humanität der PuppeSpectacles de fin d'études in Charlevilles-Mézièresvon Anke Meyer | Seite 21 |
In fremden WeltenÜber das 14. Internationale Figurentheater in Erlangenvon Katja Spiess | Seite 23 |
Von Krankenzimmern, Reiskörnern und einer Giraffeein Tag beim Festival „Theater der Welt“ in Stuttgartvon Annette Dabs | Seite 27 |
Theater von Anfang anÜber ein Kolloquium während des Festivals AUGENBLICK MAL!von Silvia Brendenal | Seite 29 |
Seekasper1. Internationales Puppentheaterfestival im Juni 2005 auf Hiddenseevon Kai Zeisberg | Seite 31 |
Inszenierungen | |
Narzissmus kreuzt Schwesternliebe„Die wilden Schwäne“, Figurentheater Anne-Kathrin Klattvon Anke Meyer | Seite 32 |
Dinge als Komplizen der Sehnsucht„Prettig verdwaald“ von Ad van Iersel und Hedy Grünewaldvon Silke Haueiß | Seite 33 |
Glücksfeen-Duette„Glücksfeen“ der Dalang Puppen Company Zürichvon Lothar Drack | Seite 34 |
Die Kraft der Reduktion„... des Glückes Unterpfand. Isolation von Ulrike Meinhof“ von Antje Töpfervon Christian Bollow | Seite 35 |
Ausstellung | Seite 36 |
Bad Kreuznach - Theater ganz nahEi Reise-Tipp zu Geschichte und Gegenwart des Puppentheatersvon Jürgen Kirschner | |
Nachruf | Seite 37 |
Prof. Dr. Kawrakowa-Lorenz (1941-2005)von Silvia Brendenal | |
Notizen | Seite 38 |
Aktuelle Premieren, Festivals, Tagungen, Werkstätten, Ausstellungen und Publikationen | |
Autoren | Seite 40 |
Autoren/Impressum |
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