»Hätte ich nur 10.000 Taler, so würde ich folgendes veranstalten: In Zürich würde ich auf einer schönen wiese bei der stadt von Bret und / balken ein rohes Theater nach meinem plane herstellen und lediglich blos mit der ausstattung an decorationen und maschinerie versehen lassen, die zu einer Aufführung des Siegfried nötig ist. Dann würde ich mir die geeignetsten Sänger, die irgend vorhanden wären, auswählen und auf 6 wochen nach Zürich einladen (...). Von Neujahr gingen die Ausschreibungen und Einladungen an alle freunde des musikalischen Drama's durch alle Zeitungen Deutschland's mit der Aufforderung zum Besuche des beabsichtigten dramatischen Musikfestes: Wer sich anmeldet, bekommt gesichertes entrée, - natürlich wie alle entrée: gratis! Des weiteren lade ich die hiesige jugend, Universität, Gesangsvereine u.s.w. zur Anhörung ein. Ist alles in gehöriger Ordnung, so lasse ich dann unter diesen umständen drei Aufführungen des Siegfried in einer woche stattfinden: nach der dritten wird das theater eingerissen und meine partitur verbrannt. Den leuten, denen die sache gefallen hat, sage ich: »nun macht's auch so!« Wollen sie auch von mir einmal wieder etwas Neues hören, so sage ich aber: »schießt ihr das Geld zusammen!« Richard Wagner, 1850 Festivals stellen in der Welt des Theaters den Sonderfall dar, wie er etwa durch die Anwesenheit einer Biene in der Unterhose repräsentiert wird: Das Tier ist an diesem Ort äußerst fragwürdig, beschleunigt aber Gang und Herzschlag. Die Biene, der Käfer, die Spinne, ein ganzes, gut geerdetes Bestiarium als Geburtshelfer für den Gedanken »Festival im Kopf«? Das kennen wir doch schon aus anderen Zusammenhängen: Eros und Thanatos, Apollon und Dionysos im gemeinsamen Fest. Oder, um es mit Karl Valentin einfach-vertrackt auszudrücken: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.«
Bevor dieses Editorial nun von Esprit durchweht erscheint, beeilen wir uns festzustellen, dass es im Thementeil dieses Heftes nicht um die Kunst an sich, sondern um das »making of festival« geht. Es gibt eine beachtliche Anzahl dieser Gattung allein in Europa, die im Ein- oder Zweijahresrhythmus kontinuierlich ihren Platz im Veranstaltungskalender einnehmen und die Spielräume des Figurentheaters international ausloten. In der Regel treten sie als ein in sich geschlossenes Produkt hervor, das sich via Plakat, Programmheft, Logo und Pressearbeit einem Publikum als Attraktion mit zeitlich klar begrenzter Dauer und räumlich desperaten Veranstaltungsorten stellt.
Nicht selten ist der Einlader und Gastgeber selbst zu Gast an Orten, die in ihrer Eigenart zum Teil dem noch so versierten Theaterbesucher einen ungewöhnlichen Eindruck von Kunstplätzen seiner Stadt oder Region vermitteln. Der (vermeintlichen) Leichtfüßigkeit des Hier und Dort und Irgendwo korrespondiert eine gewisse Beschleunigung der Aufnahmeanforderungen, die sich merkwürdiger Weise einer (scheinbaren) Verknappung von Zeitressourcen verdankt. »If not now, when ever?« Um diesen »immer jungen Frühling« dürfen Festivals von den Lastkähnen und Tankern festgefügter Kulturbollwerke zu Recht beneidet werden.
Im Thema stellen wir Festivals in ihrer Außenwirkung und Festivalmacher mit ihren Konzepten und Reflexionen zum eigenen Tun vor. Wolf-Dieter Ernst beschreibt einen kollektiven Prozess, aus dem als willkommenes Seitenstück auch ein Festival hervorgeht. Mascha Erbelding begibt sich für uns in den Hexenkessel von Madame la Marionnette in Charlesville-Mézières, dessen überschäumende Festplatzenergie den Wunsch nach einem Führer durch die Höhen und Tiefen eines Programmdschungels wach rufen. Meike Wagner spricht mit Bodo Birk über die Realität und Utopie des Festival-Machens in Erlangen. Und Yves Bodin erläutert künstlerische Zusammenhänge und Interaktionen zwischen der eigenen Theaterarbeit und dem Zustandekommen eines Festivals. Ahnt der Festivalbesucher, dass er sich mit dem Erwerb der einen oder anderen Eintrittskarte in höchste Gefahr begibt? Will er wirklich Augen- und Ohrenzeuge eines performativen Feuerwerkes werden, gar einer Brandschatzung der Kunst, wie sie Wagner in seinem Zürcher Exil 1850 als Vision eines autonomen Theaterereignisses entwirft? Trotz eingehaltener feuerpolizeilicher Schutzvorschriften sollte sich das Publikum nicht zu sicher fühlen. Der Festivalwahnsinn packt zu, der kollektive Taumel erfasst die Sinne.
Gerd Taube, Meike Wagner, Manfred Wegner
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Thema | |
Festival der NomadenTranseuropa 2006 widersetzt sich dem Staatsapparatvon Wolf-Dieter Ernst | Seite 4 |
(Ein-)Blick ins SchaufensterMascha Erbelding im Gespräch mit Lucile Bodsonvon Mascha Erbelding und Lucile Bodson | Seite 9 |
Zwischen Publikumsanspruch und Welt-VerbessernMeike Wagner im Gespräch mit Bodo Birk über Realität und Utopie des Festival-Machens in Erlangenvon Meike Wagner und Bodo Birk | Seite 13 |
Ein Fest für das ImaginäreGedanken von Yves Baudin und Corinne Grandjean über Idee und Konzept der Semaines internationales de la Marionnette en Pays Neuchâteloisvon Yves Baudin und Corinne Grandjean | Seite 17 |
Festival | |
Die Puppe als ZeitgenosseStreifzüge durch das 14. Festival Mondial des Théâtres de Marionnettes in Charleville-Mézièresvon Katja Spiess | Seite 21 |
Stadt-Theater in BadenEindrücke vom Figura Theaterfestival 2006von Anke Meyer | Seite 23 |
Geschichte und Gegenwart | Seite 26 |
Sich erinnern und sich erinnern lassenVon der Darstellbarkeit des Holocaustvon Chris Wahl | |
Ausbildung | Seite 30 |
Versuchung der VielfaltBemerkungen zum internationalen Forum jungen Figurentheaters in Berlinvon Suvi Auvinen | |
Inszenierungen | |
Modern Times»Spleen. Charles Baudelaire: Gedichte in Prosa« vom Figurentheater Wilde & Vogelvon Tobias Prüwer | Seite 34 |
Das Enthüllen des Verborgenen?»salto lamento« vom figuren theater tübingenvon Helmut Landwehr | Seite 35 |
Von den Mysterien einer Schiffskombüse»Chimära« von der Seebühne Hiddenseevon Holger Teschke | Seite 36 |
Notizen | Seite 37 |
Aktuelle Premieren, Festivals, Tagungen, Werkstätten, Ausstellungen und Publikationen | |
Impressum | Seite 40 |
Autoren/Impressum |
Suvi Auvinen
Yves Baudin
Bodo Birk
Lucile Bodson
Mascha Erbelding
Wolf-Dieter Ernst
Corinne Grandjean
Helmut Landwehr
Anke Meyer
Tobias Prüwer
Katja Spiess
Holger Teschke
Meike Wagner
Chris Wahl
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
Zeitschrift
Neue Bücher

Recherchen 154
Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung
Fragen an Heiner Müller
€ 16,00

Recherchen 160
Heiner Goebbels
Ästhetik der Abwesenheit
Texte zum Theater / Erweiterte Neuauflage
€ 18,00

Ulrike Haß
Kraftfeld Chor
Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek
€ 22,00

Ohne Worte | Körper – Botschaften
IXYPSILONZETT 2021
€ 9,50

Dialog 31
Christian Martin
War nix is nix wird nix
Stücke der Erinnerung
€ 22,00

Recherchen 158
Joscha Schaback
Kindermusiktheater in Deutschland
Kulturpolitische Rahmenbedingungen und künstlerische Produktion
€ 22,00

Axel Tangerding
40 Jahre Meta Theater
Retrospektive und Vision
€ 10,00

Recherchen 155
TogetherText
Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater
€ 22,00

Hofmann&Lindholm
Nachgestellte Szene
€ 28,00


Recherchen 159
Inne halten: Chronik einer Krise
Jenaer Corona-Gespräche
€ 18,00
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren