»Ein Schauspieler, so der Dichter und Philosoph des Absurden, Albert Camus, schleiche sich ein in die imaginäre körperliche Gestalt seiner Wesen und leihe unseren Phantomen sein Blut. Was uns ins Theater zieht, hat demnach mit Neid und Sehnsucht zu tun - denn der Schauspieler verwirklicht, was wir träumen: das Wagnis, wenigstens ein einziges Mal grundlegend die Daseinsspur zu wechseln. So offenbart das Spiel, das vor aller Augen auf der Bühne abläuft, jene Wahrheit, die der Alltag meist verweigert: Jeder Mensch trägt mehr als nur ein einziges Leben in sich.«
(Hans-Dieter Schütt, in: Inge Keller, Alles aufs SPIEL gesetzt)
Jeder Mensch weiß von diesem Potential, hat er doch in seiner Biografie Entscheidungen getroffen, die seinem Leben die Richtung gegeben haben. Für einen Partner, einen Beruf, einen Ort. Jede dieser Entscheidungen hätte auch anders aussehen können: Die imaginären Wege, jene Wege, die wir an einer bestimmten Abzweigung eben nicht beschritten haben, die stillgelegten Routen unserer Existenz, unterwandern beständig unser Bewusstsein. In unseren Sehnsüchten bleiben sie präsent. Aus diesem Grund sind die Wendepunkte eines Lebenslaufes in besonderem Masse aufschlussreich, nicht nur im Hinblick auf die tatsächlich gelebte Biografie, sondern auch unter dem Aspekt ihrer Legitimation. Schließlich sind es häufig jene Momente, in denen sich individuelle und gesellschaftliche Bewegungen oder Brüche zu einander in Bezug setzen lassen. Das Persönliche wird im Horizont seiner Zeit wahrnehmbar.
Das gilt natürlich in besonderem Maße für öffentliche Menschen, und noch mehr vielleicht für die Theaterkünstler, die nicht umhin können, Leben und Kunst beständig neu zueinander ins Verhältnis zu setzen. In einem einleitenden Essay zu unserem Schwerpunktthema umreißt der Literaturwissenschaftler Christian Klein grundlegende Fragen zur Situierung biographischer Texte zwischen Fakt und Fiktion, zwischen »Inszenierung« und »Wirklichkeit«. Es schließt sich ein Panorama von Interviews, Porträt und Selbstporträt von Puppenspielern und Regisseuren an, die fragmentarisch und sprunghaft Einblick in ihre Lebensläufe geben. Da erzählt Marcel Cremer von seiner für die Arbeit konstitutiven Entscheidung für den Ort St. Vith, Hans-Jochen Menzel vom Wunsch eines Physikstudiums, der sich in einem künstlerischen Konzept wiederfindet, das die Konstruiertheit der Puppe mit der grundlegenden Konstruktion des Seins in Bezug setzt; Wiebke Holm berichtet vom Leben und Arbeiten zwischen zwei Welten, Südafrika und Deutschland, und der Auseinandersetzung mit den divergierenden Wahrnehmungsmustern, über eine ähnliche Erfahrung verfügt auch Anurupa Roy, Reisende zwischen den Kontinenten Indien und Europa, die daraus eine soziale Verantwortung ihrer Arbeit begründet. Sie alle erzählen von der einzigartigen Verbindung, die jedes Leben mit seiner Zeit eingeht: »Menschen haben zweierlei Eigentum: ihre Lebenszeit, ihren Eigensinn.« (Alexander Kluge) Darüber hinaus bietet das vorliegende Heft Berichte von internationalen Festivals Neben einem Einblick in die herausragende Theaterkultur Dänemarks beim DANISH+, finden Sie zwei Berichte über Festivals mit Theaterarbeiten für die Allerkleinsten (ab 2 Jahren).
Silvia Brendenal, Christoph Lepschy
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Thema | |
Vom Erzählen des eigenen LebensBiografik zwischen Fakten und Inszenierungvon Christian Klein | Seite 4 |
Mit der Wirklichkeit spielenEin Gespräch mit Marcel Cremer, Leiter des belgischen Theaters AGORA | Seite 7 |
Puppenspiel zwischen den WeltenHermes- oder Äskulapstab?von Wiebke Holms | Seite 12 |
»Alles was man tut, macht einen zum Pionier!«Biografische Erfahrungen einer indischen Puppenspielerinvon Anurupa Roy | Seite 15 |
Der Plan, den wir alle so dringend brauchenDer Künstler und Hochschullehrer Hans-Jochen Menzelvon Gerd Taube | Seite 18 |
Festival | |
Theatervisionen sind Visionen in die ZukunftTheaterfestival für unter Sechsjährige in Bolognavon Brigitte Korn-Wimmer | Seite 22 |
Lebendiges Theater für die frühe KindheitEindrücke vom Pariser Festival »Premières recontres«von Bettina Seidler | Seite 26 |
Dreimal PlusÜber das Performing Arts Festival for Children and Young People DANISH+von Silvia Brendenal | Seite 29 |
Inszenierung | |
Spiel der Angst»La populace villageois tremble d´effroi« vom Théâtre de la Poudrière Neuchâtelvon Katja Spiess | Seite 33 |
Shakespearsches Endspiel»Lear« vom Figurentheater Wilde & Vogel, Stuttgart/Leipzigvon Kenneth Gross | Seite 34 |
Ab in die Soße!Thalias Kompagnons Bildersturm »Kobold, Hans und Ballerina«von Mascha Erbelding | Seite 35 |
Glosse | Seite 36 |
Wenn ich groß bin, mache ich Theater!oder Warum Eva M. nicht aufgibtvon Berenika Szymanski | |
Notizen | Seite 37 |
Impressum | Seite 40 |
Silvia Brendenal
Mascha Erbelding
Kenneth Gross
Wiebke Holms
Christian Klein
Brigitte Korn-Wimmer
Anurupa Roy
Bettina Seidler
Katja Spiess
Berenika Szymanski
Gerd Taube
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
Zeitschrift
Neue Bücher

Recherchen 154
Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung
Fragen an Heiner Müller
€ 16,00

Recherchen 160
Heiner Goebbels
Ästhetik der Abwesenheit
Texte zum Theater / Erweiterte Neuauflage
€ 18,00

Ulrike Haß
Kraftfeld Chor
Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek
€ 22,00

Ohne Worte | Körper – Botschaften
IXYPSILONZETT 2021
€ 9,50

Dialog 31
Christian Martin
War nix is nix wird nix
Stücke der Erinnerung
€ 22,00

Recherchen 158
Joscha Schaback
Kindermusiktheater in Deutschland
Kulturpolitische Rahmenbedingungen und künstlerische Produktion
€ 22,00

Axel Tangerding
40 Jahre Meta Theater
Retrospektive und Vision
€ 10,00

Recherchen 155
TogetherText
Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater
€ 22,00

Hofmann&Lindholm
Nachgestellte Szene
€ 28,00


Recherchen 159
Inne halten: Chronik einer Krise
Jenaer Corona-Gespräche
€ 18,00
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren