
Heft 05/2003
edition X
Schaubühne am Anhalter Bahnhof?
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Friedenstäubchen, wo rollst du hin: Spätestens, als britische Soldaten mit Panzern das Tor zu einem von Saddams Palästen aufbrachen, um sich in Saddams Sesseln sitzend fotografieren zu lassen, hätte man ahnen können: Auch dieser Krieg speist sich - wie andere Kriege vor und nach ihm - aus banalen, allzumenschlichen Mechanismen und Interessen. Deswegen auch die brutal einfache Symbolik, die er in Momenten wie diesem erzeugt. Deswegen auch die Undurchschaubarkeit, die ihm zu anderen Zeiten eigen ist.
Spätestens in diesem Moment aber konnte man auch wissen: Dieser Krieg wird mit seinem militärischen Ende nicht zu Ende sein. Die Bilder des zerstörten und geplünderten Nationalmuseums zu Beginn der "Nach-Saddam-Ära" wirken neben dem hochabgesicherten Ölministerium nur im ersten Moment makaber. Sie werden - im Verweis auf die Unterlassung seitens der Besatzungstruppen - zum fatalen Zeichen eines umfassenden, ausradierenden Zugriffs aufdas Gedächtnis einer fremden Kultur - auf all den symbolischen Vorrat ihrer Geschichte und ihres Selbstverständnisses. In der Logik einer solchen Bemächtigungsstrategie ist auch angelegt, dass parallel dazu bereits die ersten Aufträge zum Wiederaufbau an eine amerikanische Baufirma ausgelobt und vergeben wurden. Verheißungsvoll für die Zukunft ist es nicht - nicht nur der Anmaßung, sondern vor allem des Verlustes wegen, der damit einhergeht. Verlust an kultureller Vielfalt. Letztlich wird damit auch an den Wurzeln der eigenen Kultur und des eigenen Selbstverständnisses gesägt.
Wenn dieser Krieg - aus deutscher Feme betrachtet - aber irgendeinen Nutzen von Belang haben könnte, dann nur in einem Zugewinn an Selbstverständnis. Das macht Analysen und Debatten notwendig, die jenseits eines moralisierenden Für-oder-gegen-den-Krieg stattfinden müssen und weder das Eigene noch das Fremde aussparen können. Und hier schlägt der Bogen ins deutsche Theater, das sich zum großen Friedensmichel aufschwang - um so mehr, je unabänderlicher der Krieg wurde. Große Plakate mit Friedenstauben vor die Portale zu hängen, Unterschriftslisten auszulegen, Aufrufe und Bekundungen nach Vorstellungsende zu verlesen etc. ist so ehrwürdig und notwendig wie hilflos-überflüssig zugleich. Es hilft vielleicht dem eigenen Gewissen, sich seiner moralischen Integrität zu vergewissern. Das aber ist angesichts fehlender Handlungsmöglichkeiten und damit fehlender Verantwortlichkeit letztlich irrelevant. Dass im Dresdner Schauspielhaus ein älterer Mann im Publikum auf solch ein öffentliches Haltung-Zeigen im Anschluss an die "Zauberberg"-Vorstellung mit lautem "Schwachsinn" antwortete, verwundert dann auch höchstens angesichts des Mutes, den es hierfür braucht. Nicht nur, dass dieser Einwurfdas ganze Dilemma mit einem Wort offenbar macht - dass es Sinn macht und zugleich schwach ist. Daraus spricht vor allem aber der berechtigte Ärger, dass dem Theater nichts besseres einfallt als harmlose Aufrufe über die Rampe zu schicken, über die zu reden sich nicht lohnt. Damit aber vergibt das Theater seine Chance als öffentliche Institution, in der gesellschaftliche Fragen kreisen können und ein Nachdenken in der Schwebe gehalten wird. Die Formen, in denen das möglich ist, können sich nur im Vollzug erweisen. Aber sie müssen gesucht und gefunden werden.
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