Thema
Am Nullpunkt
Der Regisseur und Dramatiker Joël Pommerat über die Selbstbefragung der französischen Gesellschaft im Gespräch mit Lena Schneider
von Joël Pommerat und Lena Schneider
Die Menschen in Frankreich suchen im Moment stark nach Bestätigungen dessen, was es bedeutet, französisch zu sein. In dieser Identität spielt die Französische Revolution eine essenzielle Rolle. Ist das vielleicht auch ein Grund für das starke Interesse an „Ça ira“ – obwohl es beileibe keine Identität bestätigt, sondern befragt?
Bei diesem Konzept von „Frankreich“ handelt es sich für mich eher um die Verpackung, ein Gehäuse. Das hat seine Daseinsberechtigung, gewiss. Aber das mit einem Wertesystem zu verwechseln, mit einer politischen Denkweise, dem gemeinsamen Willen, eine bestimmte Gesellschaft aufzubauen – das ist etwas ganz anderes. Ich glaube, diese Idee, die mit der Revolution einhergeht, die wirklich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt diskutiert und vorangebracht wurde, das ist viel größer als die französische Identität. Es gibt eine Art Eitelkeit in Frankreich, bekräftigt durch einen etwas naiven Blick aus dem Ausland, die das als etwas Französisches für sich beansprucht. Dabei ist für alle sichtbar, dass diese Werte, die angeblich so französisch sind – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, im heutigen Frankreich beileibe nicht umgesetzt werden. Noch gehören sie in den Bereich des Utopischen. Alle die großen Entwürfe der Revolution, die Frankreich für sich beansprucht, gehören nicht ihr als Nation und sind nicht fertig und abgeschlossen. Sie warten auf Vervollständigung.
Demnach gäbe es darin nichts, worauf Frankreich stolz zu sein hätte – dabei ist die Suche nach etwas, worauf dieses Land in Zeiten wie diesen stolz sein könnte, derzeit überall spürbar. Die Menschen hängen die Trikolore raus, singen die Marseillaise. Wie um sich aufrecht zu halten, um zu sagen: Es ist nicht alles schlecht.
Ja, aber dieses Etwas ist nicht Frankreich. Die Menschen finden sich zusammen, um einen Gesellschaftsentwurf zu verteidigen, eine Utopie, die Franzosen, bestimmte Franzosen, sehr hochgehalten haben im Laufe ihrer Geschichte und die die Menschen jetzt in den Fahnen, in dem Lied symbolisiert finden. Es gibt auch das Bedürfnis, als Gemeinschaft wieder zusammenzuwachsen, sich um einen großen Entwurf zu versammeln. Und welcher Entwurf könnte größer sein als der der Demokratie? Dieser Impuls, sich zu versammeln, ist ziemlich natürlich in Momenten der Bedrohung. Gleichzeitig zeugt er auch davon, dass sich etwas in uns zurechtrückt und der Politik wieder Sinn verleihen könnte, um den Menschen vom Konzept des Individualismus abzubringen.
Alain Badiou sagt, mit etwas anderen Worten: Frankreich existiert nicht mehr. Denn seit den 1970ern Jahren ist für ihn das Erbe der Französischen Revolution verloren, und damit auch das, was es bedeutet haben könnte, französisch zu sein.
Das knüpft daran an, was ich eben sagte, denke ich. Wenn wir in diesem Café hier, dem Café Rostand, einen Entwurf schmieden würden, den wir dann den „Entwurf Rostand“ nennen, dann würde später auch nicht der Name zählen, sondern das, was wir hier entworfen haben. Die Gefahr ist, dass man beides durcheinanderbringt, den Namen und den Inhalt. Ich habe das Gefühl, dass es für die Dinge, die es zu erledigen und zu vervollständigen gilt, nicht genügt, zu sagen: Frankreich. Was ich an dem, was Sie von Badiou zitieren, schwierig finde, ist der Gedanke, dass es für ihn offenbar früher mal so etwas wie „das Frankreich“ gab. Denn das ist es doch, was die Attentate uns lehren: dass wir das Bekannte, alle erstarrten, fast unberührbaren Konzepte, neu befragen, neu benennen, neu definieren müssen. Es geht nicht darum, dass die Vergangenheit nicht existiert oder als Referenz nicht auch nützen könnte. Aber diese Referenzpunkte dürfen nicht als Realität behauptet werden. Denn die Realität ist das, was wir morgen, übermorgen daraus machen.