
Look Out
Das österreichische Performancekollektiv Nesterval verstrickt sein Publikum in kluge Mitbestimmungsspiele
von Theresa Schütz
Man könnte das seit 2010 aktive und in Wien ansässige queere Performancekollektiv Nesterval durchaus als einen der ganz wenigen Gewinner der Corona-Krise unter den Kunstschaffenden bezeichnen. Im Pandemiejahr 2020 erhalten sie für ihre Produktion „Der Kreisky-Test“, die analog geplant war und dann als eine der ersten „Stay at home“-Performances im April via Zoom Premiere feierte, den Nestroypreis in der Kategorie „Corona-Spezialpreis“. Noch im vergangenen November legte das vor Kreativität strotzende Kollektiv mit „Goodbye Kreisky“ eine Fortsetzung jener partizipativen Online-Performance um eine alternative sozialistische Gemeinschaft im Wiener Untergrund vor, die den Erstling technisch und ästhetisch sogar noch zu toppen vermochte.
Frau (Teresa) Löfberg und Herr (Martin) Finnland, die beiden künstlerischen Köpfe des Kollektivs, versammeln für ihre Produktionen ein Ensemble von bis zu 30 professionellen wie Laien-Darstellerinnen und -Darstellern. Zu ihren Markenzeichen gehören erstens die narrative Rahmung ihrer Stoffe als Geschichte(n) der namengebenden, fiktiven deutsch-österreichischen Familiendynastie Nesterval; zweitens die Entwicklung dezidiert spielförmiger Theaterformate, die von Schnitzeljagden im Stadtraum bis zu interaktiven Performance-Installationen reichen, und drittens Gender-Fluidität, die sich auf den Ebenen der Besetzung und Figurenentwicklung bis hin zu Darstellungsweisen erstreckt.
Darüber hinaus kombiniert Nesterval häufig klassische Stoffe mit…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2021
Gespräch
von Tom Mustroph und Angela Richter
Angela Richter, wann haben Sie Julian Assange das letzte Mal gesehen, und unter welchen Bedingungen?
Das war im Dezember 2019, in der ecuadorianischen Botschaft, etwa vier Monate vor seiner Verhaftung. Er war in einem elenden, schockierenden physischen Zustand. Im Belmarsh-Gefängnis, in dem er jetzt ist, sind die Bedingungen ebenfalls hart, wie ich aus seinem Umfeld erfahren habe. Die Heizungsanlage setzt aus, wenn die Temperaturen unter null Grad gehen. Also stopft er alle seine Bücher in die Fenster, um so die Kälte draußen zu halten.
Das Londoner Gericht hat entschieden, dass er nicht in die Vereinigten Staaten ausgeliefert werden darf. Ist das ein Sieg, ein halber Sieg oder ein Pyrrhussieg?
Es ist ein toxisches Urteil. Aus der Sicht der Richterin ist es sehr clever. Sie hat den USA in allen Punkten Recht gegeben und gleichzeitig gesagt, er könne nicht in die USA ausgeliefert werden, weil er im dortigen Supermax-Gefängnissystem selbstmordgefährdet sei. Das hat sie im Prozess auch ausführlich dargelegt. Für den Journalismus ist es aber eine Katastrophe, weil damit der investigative Journalismus kriminalisiert wird. Es ist das erste Mal, dass ein Journalist auf der Grundlage des Espionage Acts angeklagt wird.
Der 1917 in Kraft getretene Espionage Act wurde zunächst herangezogen, um damalige Gewerkschafter und sozialistische Politiker in den USA vor Gericht zu bringen. In den letzten Jahren wurden vor allem Whistleblower angeklagt wie die NSA-Aussteiger Edward…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2021

Kolumne
Wie der Regisseur Visar Morina von der Einsamkeit erzählt
von Ralph Hammerthaler
Applaus tut gut, aber nicht immer. Die demütigendste Art des Applaudierens habe ich in Visar Morinas Film „Exil“ gesehen, als der Beifall von Kollegen über den aus Kosovo stammenden Ingenieur Xhafer niedergeht. Seit einiger Zeit schon hat Xhafer den Eindruck, dass in der Firma alles gegen ihn läuft, ja, dass er gemobbt wird. Woher kommen Sie, aus Kroatien?, fragen sie immer wieder. Und auch der Chef fragt ihn danach, ehe er seine selbstgefällig weltläufige Rede mit einer Pointe versieht. Die Pointe heißt Xhafer. Darauf klatschen sie alle, ganz so, als würden sie ihn trocken schnalzend auspeitschen.
Geht es Ihnen gut? Geht es Ihnen wirklich gut? Nach und nach befallen Xhafer Zweifel. Einmal, auf einem Filmfestival, sagt Visar, hat ein mächtiger Fernsehmensch einen Schauspieler mit den Worten begrüßt: Na, wieder nüchtern? Der Schauspieler wusste nicht, was das sollte. Und jetzt stell dir vor, du würdest dasselbe dreimal am Tag gefragt. Na, wieder nüchtern? Da würdest auch du anfangen zu zweifeln, und zwar an dir selbst.
Eigentlich wollte ich Visar zu einem Spaziergang überreden. Weil sich so das Gespräch von selbst ergeben hätte. Aber dann stellte sich heraus, dass er bereits in München war, um in den Kammerspielen die Uraufführung von „Flüstern in stehenden Zügen“ zu inszenieren, das neue Stück von Clemens J. Setz. Jetzt haben sie sich also, sag ich mir, einen Filmregisseur geangelt, obwohl ich weiß, dass ihm das Theater nicht fremd ist. An der Berliner Volksbühne…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2021

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Abschied
Zum Tod von Peter Radtke – Schauspieler und Aktivist avant la lettre
von Gerd Hartmann
„Brigitte Bardot wurde nicht wegen ihrer Intelligenz besetzt, sondern wegen anderer Qualitäten. Und auch ich werde nicht besetzt, weil ich ein netter Kerl bin, sondern wegen meiner Körperlichkeit. Damit muss ich leben.“ Klingt in Zeiten hoher Sprachsensibilität ein bisschen anrüchig. Aber die Aussage stammt von Peter Radtke. 1943 mit Glasknochenkrankheit geboren, Schauspieler, Regisseur, Autor, Rollstuhlfahrer, Aktivist zu Zeiten, als es das Wort noch gar nicht gab. Da kriegen die Sätze eine andere Dimension. 1995 diktierte er sie mir in den Block. Ich habe sie später oft zitiert – als Theatermacher beim inklusiven Berliner Theater Thikwa, wenn Publikumsdiskussionen mal wieder in mitfühlend nivellierende Großumarmungen mündeten mit dem Tenor, dass wir doch alle ein bisschen behindert seien.
Peter Radtke war nicht provokativ, er war klar. Was manchmal dasselbe sein kann. Er lebte Selbstbestimmung vor, als Menschen mit Behinderung außerhalb der TV-Lotterieshows der „Aktion Sorgenkind“ (so hieß die „Aktion Mensch“ noch bis ins Jahr 2000) im öffentlichen Leben nicht vorkamen. Nicht als ernst zu nehmende Diskurspartner und noch viel weniger als Künstlerinnen und Künstler. Peter Radtke hat beides geändert. Kämpferisch und beharrlich. Er studierte Romanistik und Germanistik, beileibe keine Selbstverständlichkeit für einen schwerbehinderten Menschen in den 1970ern. Immer unterstützt von seinen Eltern – der Vater Schauspieler, die Mutter Krankenschwester. Das hat er immer…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 1/2021

Gespräch
von Michel Brandt und Elisabeth Maier
Herr Brandt, erst kürzlich wurde entschieden, dass der Generalintendant des Staatstheaters Karlsruhe, Peter Spuhler, im Herbst 2021 sein Amt aufgeben soll. Die Konflikte mit ihm schwelen seit Langem. 2015 gab es bereits eine Mediation. Sie selbst waren als Schauspieler seit 2014 im Personalrat. Gab es denn keine Möglichkeit, die für die Künstlerinnen und Künstler so schwierige Situation früher gemeinsam mit dem Intendanten zu lösen oder, wie nun geschehen, durch einen öffentlichen Protest zu beenden?
Es hätte Möglichkeiten gegeben, wesentlich früher einzugreifen. Das Problem ist, dass wir beim Verwaltungsrat immer auf taube Ohren gestoßen sind. Bis zum Schluss gab es für Peter Spuhler eine große politische Rückendeckung. Zunehmend hat sich am Haus Verzweiflung breitgemacht, weil sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht gehört fühlten – und weil auch der Protest, den es ja 2015 schon gab, im Sande verlaufen ist. Die Vereinbarung, die man damals über eine Mediation traf, hat gar nichts an der Situation der Beschäftigten geändert. Umso erstaunlicher ist es, dass Karlsruhes Oberbürgermeister Frank Mentrup bis jetzt behauptet, er habe von den Vorwürfen nichts gewusst. Das ist falsch. Als er 2016 bei uns im Personalrat zu Gast war, haben wir ihm die Lage sehr deutlich geschildert. Wir haben sogar Stundenzettel vorgelegt. Deshalb wurde die Verzweiflung am Haus immer größer. Der Verwaltungsrat hat alles gedeckt, da gab es keinerlei kritische Stimmen.
Noch in diesem…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 1/2021

Look Out
Die Regisseurin Anna-Elisabeth Frick möchte sich nie allzu sicher sein
von Bodo Blitz
Optimismus strahlt die Regisseurin aus, Offenheit und Freude. Wer länger mit ihr spricht, kann sich leicht vorstellen, wie gern Schauspielerinnen und Schauspieler mit ihr arbeiten. Denn Anna-Elisabeth Frick räumt ihrem Ensemble jede Menge Freiheiten ein. Das funktioniert auch deshalb, weil Texte für sie nicht absolut gelten. „Den Text?“, fragt Anna Frick schelmisch, um nach einer kurzen Denkpause selbst zu antworten: „Ja, den gibt es auch.
Frick feiert das Fragmentarische. Von „Gerüst“ ist bei ihr häufig die Rede, von „Assoziationen“ und „Atmosphäre“. All das unterstreicht ihre Denkbewegung des Hinterfragens und Suchens. Jede der zwölf Vigilien aus E. T. A. Hoffmanns Novelle „Der goldne Topf“ bricht sie in ihrer Freiburger Inszenierung aus der Spielzeit 2017/18 auf je einen zentralen Grundgedanken herunter. Das eröffnet dem Ensemble Raum zur Improvisation. Hoffmanns Protagonist stürzt selbstredend nicht mitten hinein in einen Marktstand, wie in der Eingangsnarration des Kunstmärchens vorgesehen. Anselmus’ Tollpatschigkeit transportiert sich in Fricks Regie so schlicht wie spielerisch über einen verspäteten Theaterauftritt, von den Schauspielkollegen lustvoll ausgestellt und entsprechend negativ kommentiert. Das schärft den Blick auf die Rolle des Außenseiters.
Fricks Inszenierungen bestechen durch Abstraktion. Sie spüren Grundlegendes auf und eröffnen gerade dadurch Spiel-Räume. Von ihren Schauspielerinnen und Schauspielern verlangt die Regisseurin, den Theaterraum immer…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 12/2020

Magazin
Die Berliner Schaubude veranstaltet eine gelungene Hybridversion ihres Festivals der Dinge
von Tom Mustroph
Es gibt noch Überraschungen im kontaktgebremsten Pandemieherbst. Beim Festival der Dinge, dem Objekttheaterfestival der Berliner Schaubude, entsteht tatsächlich eine Art Begegnungsraum. Jedenfalls dann, wenn man sich die App „Nur für einen Tag“ auf Smartphone oder Tablet herunterlädt und von der Schaubude aus eine GPS-geleitete Suche nach Skulpturen im Stadtraum beginnt.
Die Bilder des Kameraauges werden auf dem Bildschirm mit abstrakten Zeichen und Symbolen überlagert. Unter die Aufnahmen real entgegenkommender Passanten mischen sich bald auch Silhouetten digitaler Figuren. Man ist plötzlich inmitten einer digital erweiterten Gemeinschaft. „Nur für einen Tag“ lenkt den Weg dann zu Denkmälern im öffentlichen Raum. An den antifaschistischen Widerstandskämpfer Anton Saefkow wird erinnert – und diese Erinnerung mit der Frage an die Heldinnen und Helden unserer Zeit verknüpft. Natürlich fallen einem die offiziell auserkorenen Pandemiehelden an Supermarktkassen und auf Intensivstationen ein. Zu Heldinnen und Helden wurden sie, weil sie ihr gewöhnliches Tagwerk in ungewöhnlichen Zeiten weiter verrichteten; der Kontext sorgt hier für Heldentum, nicht die Tat selbst – womöglich schlummert hier ein neuer Ansatz für Dramatik. Die App führt dann aber auch die Stimme von Carola Rackete ein, der Kapitänin, die auf dem Mittelmeer Leben rettet. Als Heldin ist sie mit den Pandemieheldinnen verwandt, weil sie tut, was Schiffsführerinnen auf See tun, wenn sie Menschen in Seenot…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 1/2021

Kolumne
Kurzer Lebenslauf mit Polizei
von Ralph Hammerthaler
Das erste Mal, dass ich einen Polizisten nicht nur auf der Straße, sondern auch in einer Wohnung sah, war leider bei mir zu Hause. Meine Mutter wollte meinen Vater anzeigen; wenig später zog sie die Anzeige zurück. Damals war ich noch klein, und ich war auch noch nicht groß, als ich von einem Polizeiwagen gestoppt wurde, ich auf meinem Fahrrad, unvorteilhaft auf der linken Spur der Straße. Der Polizist auf dem Beifahrersitz kurbelte das Fenster herunter, und weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfiel, tat ich empört: Bin ich zu schnell gefahren? Diese Frage überging der Polizist und wies mit erhobenem Zeigefinger darauf hin: Rechtsfahren ist amtlich. Das habe ich mir bis heute gemerkt, woran man sieht, dass das gern praktizierte, an die Einsicht appellierende Bürgergespräch der Polizei nicht immer vergeblich ist.
Das zweite Mal, dass ich einen Polizisten in einer Wohnung sah, noch dazu in seiner eigenen, war in Rosenheim. Max arbeitete dort für die Kripo. Ich glaube, er mochte mich, und ich mochte ihn auch, aber viel mehr noch mochte ich seine Tochter, die mich zwar auch mochte, aber nicht so, wie ich es gebraucht hätte. Oft wirkte Max ein wenig zerknirscht, und einmal ließ er ein paar Worte fallen, die ich schwer vergessen kann: Du musst es so sehen, Ralph, wir haben nur mit Abschaum zu tun.
Als ich dem Theater verfiel, sah ich immer wieder Polizisten auf der Bühne, das waren selten echte Menschen, weil meistens komisch und lächerlich gemacht, schon wegen der…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 12/2020

Gespräch
von Shenja Lacher und Christoph Leibold
Shenja Lacher, als Sie vor vier Jahren Ihren Vertrag am Münchner Residenztheater gekündigt haben, erklärten Sie in einem Interview mit der FAZ: Nur „Material“ eines Regisseurs zu sein, sei Ihnen zu wenig. Dann lieber selbst als Regisseur Material formen?
Das wird im Fall von „All By MySelfie“ in Jena sicher nicht so sein. Es ist ein Geben und Nehmen. Die Schauspielerin Mona Vojacek Koper bringt ja ein Grundkonzept und ihre Texte selbst mit, und dieses Material formen wir dann gemeinsam. Aber auch, als ich vor ein paar Jahren an der Bayerischen Theaterakademie das erste Mal mit Schauspielstudierenden eine Inszenierung gemacht habe, habe ich versucht, die Leute nicht in irgendetwas hineinzupressen. Mir geht es eher darum, Feuer zu entfachen, Spiellaune und Fantasie zu fördern. Aber natürlich freu ich mich, wenn gutes „Material“ vorhanden ist. Wo nichts da ist, kann man auch nichts entfachen.
Versuchen Sie der Typ von Regisseur zu sein, den Sie sich als Schauspieler immer gewünscht haben?
Na ja, ich habe ja gar nicht vor, dauerhaft ins Regiefach zu wechseln. Das hat sich so ergeben. Ich sehe mich tatsächlich als Spieler. Das ist aber auch ein bisschen mein Problem. Ich muss lernen, mich zurückzunehmen. Ich arbeite auch als Rollenlehrer. Das macht mir viel Freude, aber ich glaube, dass ich den Studierenden oft auf den Sack gehe, weil ich viel vorspiele. Es ist vermutlich ziemlich anstrengend mit mir, und deswegen verkörpere ich eher nicht das Ideal, das ich mir vorstelle. Ich…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 12/2020

Festivals
Das Favoriten-Festival 2020 in Dortmund zeigt die Licht und Schattenseiten von bezahlter und unbezahlter Arbeit
von Sascha Westphal
Der Besen ist riesig, mit dem Demian Wohler den Boden in der Werkhalle im Union Gewerbehof fegt. Aber das muss er wohl auch sein. Schließlich sind die Ausmaße des Raums enorm. Nach und nach zieht er seine Bahnen zwischen den in der Halle aufgestellten Tischen. Indessen staubt Lucie Ortmann die grünen Zimmerpflanzen ab, die in einem anderen Areal des Raums stehen. Es sind ganz alltägliche Arbeiten, denen Wohler und Ortmann im Zuge des Installationsprojekts „Aufstand aus der Küche: II_VerSammlung DO“ für kurze Zeit nachgehen. Aber sie bekommen an diesem Ort und in diesem Rahmen eine ungeheure symbolische Bedeutung. Die Inszenierung ist von der 1975 entstandenen feministischen Videoarbeit „Semiotics of the Kitchen“ der US-amerikanischen Künstlerin Martha Rosler inspiriert. Während das Publikum durch die Installation schlendert, sich von der Gruppe produzierte Video-Reenactments von Roslers Arbeit ansieht oder die auf den Tischen aufgebahrten Arbeitsgegenstände aus diesen Videos betrachtet, wie eine Kamera und einen Laptop, einen Notizblock und einen Becher, erledigen die Performerinnen und Performer klassische Hausarbeiten.
Kunst und Staubwischen, das wirkt auf den ersten Blick wie ein eklatanter Widerspruch. Und das soll es auch. Denn schon der Gedanke, dass Hausarbeiten sich nicht mit Kunst vereinbaren lassen, dass hier zwei Welten zusammenkommen, die nicht zusammengehören, verrät viel über die Mechanismen und Konditionierungen unserer Gesellschaft. Staubwischen und Fegen,…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2020

Protagonisten
Eine Entdeckung zum 25. Todestag – Heiner Müllers bislang unveröffentlichtes Drehbuch-Exposé „Myer und sein Mord“ fürs DDR-Fernsehen
von Thomas Irmer
Schon lange, bevor der Sendebetrieb des DDR-Fernsehens am 31. Dezember 1991 eingestellt wurde und die Büros entsprechend dem Einigungsvertrag bereits aufgelöst waren, hatte ein Hefter mit Texten Heiner Müllers das Fernsehzentrum in Berlin Adlershof verlassen. Es handelte sich um 29 nicht datierte und vom Autor nicht gezeichnete Typoskriptseiten, unveröffentlicht und bislang in der umfangreichen Sekundärliteratur zu Heiner Müller nicht behandelt.
Christa Vetter, die den Hefter bewahrte und seinerzeit an sich nahm (er wäre wohl sonst im Müll gelandet), war in den 1960er Jahren Dramaturgin für Fernsehspiele beim Fernsehen der DDR und zuvor am Berliner Maxim Gorki Theater tätig gewesen, wo sie Arbeiten von Müller betreut hatte. Das Konvolut umfasst insgesamt 15 Texte in unterschiedlicher Ausführung, vom ausgeschriebenen Treatment bis zur knappen Skizze als vermutlicher Stoffprobe: Entwürfe für kleine Fernsehspiele beziehungsweise eventuelle Literaturverfilmungen.
Diese Entwürfe schrieb Heiner Müller in den Jahren nach 1961 offenbar als Auftragsarbeiten. Der biografische Hintergrund sind die Hungerjahre nach dem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband. Kulturgeschichtlich kommt die planvoll vermehrte Produktion von Fernsehspielen im Deutschen Fernsehfunk Anfang der sechziger Jahre hinzu, als Stoffe für das noch junge Medium gefragt waren: für Müller ein wohl wichtiger anonymer Broterwerb in der Beauftragung durch Christa Vetter.
Stofflich haben die 15 Entwürfe wenig bis…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 12/2020

Look Out
Das feministische Performancekollektiv Swoosh Lieu feiert die Produktionsmaschine Theater mit all ihren Störungen
von Theresa Schütz
„Dea ex machina“, die jüngste Produktion des feministischen Performancekollektivs Swoosh Lieu, hätte eigentlich im Frühjahr im Frankfurter Mousonturm Premiere gefeiert. Coronabedingt müssen sich Liebhaberinnen ihrer Arbeiten nun bis Herbst 2021 gedulden, um herauszufinden, welche queerfeministische Technovision die selbst ernannten „Theatermaschinistinnen“ auf der Bühne entfalten werden. Überbrücken ließe sich die Zeit mit dem Verweilen auf den Webseiten ihres künstlerischen Forschungsprojekts „A Feminist Guide to Nerdom“, dem Lauschen ihrer Hörspielversionen von „Who Cares?!“ und „Who Moves?!“ oder der (ohnehin stets wertvollen) Lektüre Donna Haraways, deren Werk in Swoosh Lieus Arbeiten spürbar hineinwirkt.
Die Inszenierung „Who Cares?! – Eine vielstimmige Personalversammlung der Sorgetragenen“ (2016) ist der erste Teil der Trilogie „What Is the Plural of Crisis – ein performativer Krisenbericht in verteilten Rollen“ und bringt das Publikum zunächst mit den Stimmen interviewter Sorge-Arbeiterinnen zusammen: Pflegerin, Erzieherin, Blindenassistentin, Sexarbeiterin – sie alle berichten von ihrem Arbeitsalltag, von schlechter Bezahlung, mangelnder Wertschätzung, der eigenen Erschöpfung und dem Wunsch nach mehr Anerkennung. Auch das visuelle Feld wird bespielt: Fünf Performerinnen, die je ein weibliches Rollenbild in einem Tableau vivant verkörpern, treten der Versammlung bei. Gleiches gilt für Medea, Nora, Antigone oder Mascha, die (imaginär) teilnehmen, indem…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2020

Magazin
Ein epochaler Bruch: Olaf Nicolais Plakatkampagne für die Berliner Schaubühne
von Patrick Wildermann
Der Titel dieser neuen Imagekampagne der Berliner Schaubühne lässt schon aufhorchen. „Nothing for Nothing / Try Again“ hat der Konzeptkünstler Olaf Nicolai sie genannt. Nichts für nichts / Versuch’s noch mal? Das klingt nach nihilistischem Grundrauschen, nach einem Sisyphos-gemäßen Wissen um die Vergeblichkeit aller Neustart-Bemühungen. Eher untypisch für die Selbstwahrnehmung von Thomas Ostermeiers Theater, so weit man weiß.
Möglich natürlich, dass die Shakespeare-affine Bühne unter dem Eindruck der pandemischen Erschütterungen der Gegenwart zum wahren Kern ihres britischen Lieblingsdramatikers gedrungen ist. Vom Literaturprofessor Harald Bloom stammt die Analyse: „Alle großen Figuren – Falstaff, Hamlet, Shylock, Macbeth, King Lear, Kleopatra – waren Nihilisten. Sie alle glauben, wie Hamlet: ‚Der Rest ist Schweigen‘ – das bedeutet die Annihilation, das Nichts.“
Dazu würde der Umstand passen, dass Nicolai – ein hochpolitischer, Documenta-bewährter Künstler, der NS-Justiz-Opfern und Deserteuren Denkmäler setzt – ausgerechnet von den Plakaten radiert hat, was dem Theater bis dato besonders lieb und teuer war: die Schauspielerinnen und Schauspieler. Statt Menschen bietet Nicolai nur bunte grafische Flächen an. Blaue Pfeile auf gelbem Grund, Linien, die auf einen Fluchtpunkt in unendlicher Ferne zulaufen, rot-weiße Absperrband-Optik zu blauer Kästchenreihe. Ein epochaler Bruch.
Sieben Spielzeiten lang hat die Schaubühne namhafte, international tourende Fotografinnen…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2020

Gespräch
von Natalie Fingerhut und Tuğsal Moğul
Foto: Linda Rosa Saal
Herr Moğul, viele Ihrer Stücke thematisieren die Entwicklungen an unseren Krankenhäusern. Sie sind aber nicht nur Dramatiker und Regisseur, sondern selbst auch Arzt: Wie sehen Sie den Klinikalltag?
Als ich von Niels Högel las, war meine erste Reaktion: Das hätte überall in Deutschland passieren können.
Der Krankenpfleger hatte Patienten lebensbedrohliche Medikamente gespritzt und wurde in 85 Fällen des Mordes schuldig gesprochen.
Das System ist so überfordernd, das medizinische Personal so unter Druck, dass man gar nicht mehr die Möglichkeit oder die Lust hat zu fragen, wie es dem Kollegen geht oder wie er seinen Job macht. Durch die Agenda 2010 und die Privatisierung der Kliniken haben Konzerne die Krankenhäuser zu Dienstleistungsunternehmen gemacht: Wir müssen gewisse Leistungen erbringen, damit das Haus ein Plus erwirtschaftet. Dafür werden viele OPs durchgeführt, die womöglich gar nicht indiziert sind.
Was hat Corona mit Ihnen als Regisseur gemacht?
Mein Stück „Deutsche Ärzte grenzenlos“ sollte im März in Münster uraufgeführt werden. Zwei Stunden davor waren wir im Lockdown, weil 25 Leute im Theater positiv getestet wurden, das war heftig.
Die Münsteraner Uraufführung wurde ins nächste Jahr verschoben. Unterdessen kam ein neues Stück von Ihnen im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses heraus: „Wir haben getan, was wir konnten“.
Derzeit dürfen dreißig Zuschauer in diesen Saal, in der Premiere saßen gefühlt zwanzig Kritiker und zehn reguläre…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2020