
Recherchen 26
BILD-SPRUNG
TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien
Paperback mit 210 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-93434453-2
Bild-Sprung - das Verhältnis von Bild und Bewegung, von stasis und kinesis im Wechsel unterschiedlicher Medien.
Bild-Sprung - die Bildlichkeit der Bewegung im Bild, ein Wechsel in der Dynamik der Bewegung, ein Bruch, ein Riss.
Bild-Sprung - die Unterbrechung, die sich im Übergang der Medien zeigt: Das Bild springt.
Unter diesem dreifachen Prinzip des Bild-Sprungs sind erstmals jene Studien von Gabriele Brandstetter versammelt, die sich in vielfältiger Weise mit dem Zusammenhang von Tanz-Bewegung, Performance und Medien auseinander setzen und welche bisher nur verstreut publiziert waren. Das Spezifische medialer Grenzüberschreitung wird dabei ebenso fokussiert wie intermediale Bewegungskonzepte im Tanztheater und Fragen eines >neuen Realismus< im Feld von Reality-TV und postdramatischen Theatralisations-Strategien.
Bild-Sprung - diese Metapher verschränkt jene Rahmenkategorien, unter denen die folgenden Texte ihre Fragen aufwerfen: zum Verhältnis von Bild und Bewegung, von stasis und kinesis im Wechsel unterschiedlicher Medien. Das Titelbild exponiert diese Beziehungen in exemplarischer Weise: Das Photo zeigt einen Sprung: Die Figur des Springenden, nicht eben elegant, ist im Moment der Wende zwischen Steigen und Fallen im Bild festgehalten, wobei die Unschärfe der Photographie den Effekt einer Bewegungsaufnahme suggeriert. Es könnte sich aber auch um ein Film-Still handeln - einen Ausschnitt aus einer Bewegungsdynamik, die freilich im Bild nicht zu fixieren ist. Die Situation ist jedoch viel komplexer, und sie schließt sich erst mit der Befragung des Kontextes auf.
Bild-Sprung - damit ist nicht nur der Sprung im Bild, als dargestellte Figur, bezeichnet. >Sprung< markiert ebenso die Bildlichkeit der Bewegung - im Bild: ein Hiatus, der sich im Bild im Akt seiner Betrachtung ereignet. Die Plötzlichkeit, die dem Sprung eignet, der Einschnitt in einen zeitlichen Verlauf, weist auf die ursprüngliche Wortbedeutung von >aufspringen<, >hervorbrechen
Bild-Sprung meint mithin auch die Unterbrechung, die sich im Übergang der Medien zeigt; in der Sistierung von Bewegung, die - als flüchtiges Ereignis - nicht zu halten ist, und doch umgekehrt als Bewegungsbild1 erst entsteht mit der >Animation< des in Pose Still-Gestellten: in der medientechnischen Animation und in der Belehnung mit Bewegtheit im Blick des Betrachters. Bild-Sprung bedeutet so immer auch: Das Bild springt.
In eben dieser dreifachen Spannung des Springens - als Darstellung eines Sprungs, Einbruch von Bewegung in die stasis des Bildes, Sistierung von Bewegung im Bild - entfaltet das Titelbild seine Evidenz. Das Photo zeigt Waslaw Nijinsky, den berühmten Tänzer - jedoch nicht aus der Zeit seiner großen Erfolge in den Aufführungen der Ballets Russes, sondern als Fünfzigjährigen, nach jahrzehntelangem Aufenthalt in wechselnden psychiatrischen Anstalten. Die im Bild-Sprung festgehaltene Situation weist auf eine Szene, die sich am 7. Juni 1939 in der Klinik in Münsingen abgespielt hat und durch die Krankenakten und andere Dokumente bezeugt ist.2 Auf Veranlassung von Romola, Nijinskys Frau, besuchte Serge Lifar, Tänzer und Choreograph an der Pariser Oper und einst, wie Nijinsky, Tänzer in Serge Diaghilews Ballets Russes, seinen berühmten und, wie es schien, dem Tanz verlorenen Kollegen. Zeitgenössische Berichte und Photos, die in Paris Match veröffentlicht wurden, belegen, dass Lifar Nijinsky zum Tanzen zu animieren suchte. Dieser habe schließlich tatsächlich einige Tanzschritte und Sprünge vollführt, allerdings ohne den legendären >ballon<, der seine Sprünge auszeichnete, sondern schwer und eher plump. Das Photo sistiert die Monstrosität diese Sprungs - jedoch so, dass es den Mangel an Elevation zugleich aufhebt: Im Bild-Sprung, in der Stockung der Zeit trägt sich, medial im Blick des Beobachters, die Dynamik der Bewegung in die >stastis
Bild-Sprung ereignet sich hier als plötzlicher Übergang des Bildes aus der >stasis< - sowohl in der Ruhe als auch im Aufruhr - in Bewegung: Das Photo dieses Sprungs von Nijinsky wird nämlich in einer weiteren medialen Übertragung zum Ausgangspunkt eines Videos, in dem die Szene dieser Sprung-Animation rekonstruiert ist. Dies geschieht in der Übertragung des Photos in das Video, durch die das Photo - in dem der Sprung stillgestellt und der körperlichen Dynamik enteignet war - kinetisch und kinästhetisch in Bewegung versetzt ist. Die Videokünstlerin Irène Jouannet nimmt in ihrem Video Final - l'ultime rencontre de Nijinsky et Lifar (1990) das Bild von Nijinskys Sprung zum Ausgangspunkt einer nachgestellten filmischen Szene. Die Begegnung der beiden Tänzer, Lifar und Nijinsky, endet in dieser Video-Sequenz mit jenem hier abgebildeten Sprung, der in der Bewegung arretiert ist, fixiert im >Still< des Kamera-Blicks. Die Darstellung dieser Tanzszene im Video geht vom Photo aus - dem Sprung im Bild - und mündet in dieses zuletzt auch wieder; das Photo hebt so scheinbar die (Medien-)Bewegung des Videos auf. Die filmische Animation reißt einen Schnitt durch die Zeitachse. Das Photo erscheint - vielleicht - als fingiertes Film-Still - so, wie die >Serie< auch auf der ersten Seite dieses Vorwortes als chronophotographische Reihe gezeigt ist. Es ist aber gerade die Serie der montierten Stills (oder doch: Photos?), die den Sprung in der simulierten Bewegung evident macht: Das Bild springt - im Stehen - zurück in seine Ausgangsposition und markiert doch auch eine Spiralbewegung medialer Transpositionen. Der angehaltene Moment des Sprungs weist zugleich auf die Unwahrscheinlichkeit eines solchen Tanzes - eines unendlichen Schwebens auf dem Höhepunkt der Sprungbewegung: der Traum vom Fliegen in der Überwindung der Schwerkraft. Im medialen Rahmenwechsel zwischen Photo und Video wird nicht nur die Zeitdifferenz zwischen dem historischen Bild und seiner medialen Aktualisierung erkennbar, sondern auch der Übersprung von (Tanz-)Bewegung, die im Medienbild sistiert ist, und der Kinetik (oder ebenso sehr der >stasis<) des Mediums selbst.
Dem hier exponierten Rahmen eines vielstufigen Verhältnisses von Bild - Bewegung - Medien entspringen Leit-Fragen, die in unterschiedlicher systematischer und historischer Akzentuierung die Kapitel dieses Buches generieren: die Frage nach der historischen (Parallel-)Entwicklung von Tanz/Performance und neuen Bildmedien in der Moderne und Postmoderne sowie die damit einhergehenden Transformationen der Wahrnehmung; die Frage nach der Bedeutung von Authentizität - in der Auflösung der Grenzen von Original und Kopie, von Bewegungsperformance und medienproduzierter >liveness<; die Fragen nach der Selbst-Darstellung und ihren medialen Übertragungen: als Geschichte(n)-Erzählen jenseits der klassischen narrativen Beglaubigungen; und schließlich die Beobachtungen der Beobachterposition >in Bewegung<, in den Schnitten medialer Blickorganisation.
Der Sprung als eine ins Bild gesetzte Bewegung ist an die mediale Konstitution der Wahrnehmung und ihren historischen Wandel gebunden. Ein tiefer Einschnitt in diese Geschichte von Bild-Bewegung entsteht durch die Medien Photographie und Film. Die filmische Bewegung verschränkt in sich dabei eine doppelte Bild-Motion: jene der bewegten Bilder, der >movies< als fortgesetzter Bild-Sprünge, die sich in der Serie der laufenden Einzelbilder camouflieren; und die filmische Aufzeichnung bzw. Darstellung von Bewegung - die Konfiguration einer komplexen kinetisch-kinematischen Beziehung. Diese medialen Entwicklungen durchwirken die Bewegungsweise der >movies< insgesamt,4 und sie treffen auf eine gleichermaßen revolutionäre Veränderung in den Bewegungskünsten, in Tanz und Theater um 1900. Insofern ist der Sprung Nijinskys - sowohl in seiner legendären Virtuosität als auch in seiner medialen Re-Konstruktion - nicht allein als eine singuläre, individuelle Körper-Schaustellung zu begreifen. Es zeigt sich darin vielmehr eine exemplarische Geste von >Bewegung<, die durch die Dynamik und die Darstellungskonzepte der Avantgarde geprägt ist: in ihren charakteristischen ästhetischen und medialen Mustern des Lichtspiels, der Unterbrechung bzw. des Schnitts und der Montage. Die Verkettung von Bewegung, Medientechnik und Aufmerksamkeit wird zum Thema in Kunst und Wissenschaft der Moderne. Nicht mehr die Sujets der Wahrnehmung, als Bild oder als Drama, stehen im Mittelpunkt des Interesses. Die Künstler der Avantgarde richten vielmehr ihre Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung selbst und ihre medialen, ihre physiologischen und ihre psychologischen Bedingungen. Die Entstehung eines Wahrnehmungsbildes, seine Entstellungen, sein Fokus und seine Unschärfe werden schließlich zum Thema in der Literatur, etwa bei Robert Musil, im Kubismus und Futurismus in der bildenden Kunst, im Theater und Tanz der Avantgarde und nicht zuletzt in Photographie und Film selbst: etwa in Bildern »bewegter Luft«,5 in den Fumées von Etienne-Jules Mareys photographischen Bewegungsstudien des Rauchs oder in den vergleichbaren filmischen Experimenten der Brüder Bragaglia - eine photographie aérienne, deren Figuren mediale Analogien zu den flüchtigen Lichtskulpturen des Tanzes Loie Fullers evozieren. Das shifting des Fokus und des Interesses an der Konstitution von Wahrnehmung selbst manifestiert sich im Horizont jener bewegungs- und wahrnehmungswissenschaftlichen Erkenntnisse, die beispielsweise Moritz von Hornbostel und Hermann Helmholtz anstellen. So schreibt Helmholtz: Was uns interessiert, blicken wir an und sehen es scharf; was wir nicht scharf sehen, interessiert uns der Regel nach in dem Augenblick auch nicht, wir beachten es nicht, und bemerken nicht die Undeutlichkeit des Bildes.6
Bewegung und Bewegungsbeobachtung verstehen sich so im Rahmen wahrnehmungstheoretischer Reflexion der Moderne nicht mehr unter klar definierbaren raum-zeitlichen Bedingungen. Die motorische bzw. die kinetische Seite ist nur ein Faktor, der sich beständig und kompliziert verschiebt in Beziehung zu weiteren Aspekten von Bewegung: den Dynamiken körperlicher Darstellung, den Rhythmen und Segmentierungen im Wechsel der Medien. So ist die Beziehung von Bild und Bewegung, von Tanz und Plastik nicht scharf einzustellen: angesichts der Unschärfen7 der (Beobachter-)Wahrnehmung in ihrer Eigenbewegung und ihrer jeweiligen diskursiven Kontexte. Die »Revolte des Blicks« (Heiner Müller) ist dieser Konstellation immer schon eingeschrieben. Das Sehen selbst ist ein Faktor der Bild-Bewegung: Stasis, d.h. die Suggestion einer Gleichzeitigkeit, die Homöostase des Simultanen ist im Blick immer schon in Bewegung aufgelöst. Wie umgekehrt der Blick in der Wahrnehmung von Bewegung eines Tanzes ständig >Bilder< sistiert, Ausschnitte der Aufmerksamkeit aus dem Kontinuum der Bewegung in Bildsequenzen segmentiert. Dazwischen - die Lücken des Entschwundenen, Nicht-Erinnerbaren.
Eine der Fragen, die sich in den im Folgenden angestellten Studien zu Tanz, Bild, Bewegung im Wechsel der Medien stets und immer wieder neu stellen, ist jene nach den blinden Stellen des Blicks; mehr noch vielleicht jene nach der Unruhe des Auges, die über das Gesehene hinausgeht. Denn das Auge sieht immer noch mehr und anderes als >ein Bild< oder >Bewegung< in einer Überschichtung von Aus-Schnitten und Bewegungen in einem simultanen Prozess.
Ein Tanz der Metamorphosen, wie ihn Loie Fuller im Fin de Siècle als kinästhetische und gleichermaßen kinematographische Sensation inszeniert, gewinnt erst im Horizont dieses Medienumbruchs seine avantgardistische Aura: als Licht-Spiel in der Black Box, als »ornament de la durée« (Paul Valéry), als chronophotographische Serie in der Übertragung der Serpentinen- und Wellenbewegung in Photographie, Malerei und Plastik. Parallel zum Dynamismus des Licht-Bildes, das Bewegung in Strudeln und Strahlungen re-produziert - wie dies die Photos Eugène Druets von Loïe Fullers Tanz zeigen - wird das filmische Prinzip des Schnitts und der Montage ein zentrales Bewegungsmuster des avantgardistischen Tanzes. Unterbrechung, Instantaneismus, Vergrößerung und Verkleinerung von Bildbewegungs-Ausschnitten und stroboskopische Konzepte eines >visuellen Stotterns< charakterisieren die Ästhetik des avantgardistischen Tanzes: in stilistisch höchst unterschiedlichen Konzepten, wie z.B. in RELÂCHE der Ballets Suédois, oder im Tanz als Sozialsatire einer Valeska Gert. Der Schnitt, als Prinzip einer (Unter-)Brechung, segmentiert (Bild-)Bewegung, indem er sich selbst, d.h. die Bewegung des cuts einträgt und zugleich verschwinden macht; eine Bewegung also, die Bewegung herstellt, indem sie sich selbst ins Bild einträgt und sogleich löscht. Eben dieses Prinzip, das Walter Murch in seiner Studie zur Kunst des Filmschnitts als »Lidschlag« des Mediums reflektiert, wird zu einem intermedial wirksamen Faktor der Bewegungsdarstellung auch und gerade im Tanz. An der Verbindungsstelle solcher Schnitte und Montagen, die Bewegung konstituieren, entstehen, so Walter Murch,8 »Schnitt-Sprünge, auf die man ohne dieses System nicht gekommen wäre.«9 Und Murch verknüpft dieses paradoxe Muster, eine Unterbrechung der Bewegung als Konstruktion einer ganz bestimmten Bewegungsbild-Darstellung, mit dem Tanz: »Am stärksten ähnelt das Schneiden dem Tanzen - der fertige Film ist eine Art kristallisierter Tanz.«10
In diesem Feld - zwischen Avantgarde und Postmoderne - öffnet sich das Spiel der Übertragungen zwischen den Künsten und den Medien. Akte der Animation auch und gerade in den Übergängen, Schnitten und Montagen beruhen stets auf verborgenen oder ausgestellten Szenarien der Bildlöschung. In der Imagination des Betrachters tragen sich jene Belebungen der Bilder nach, die wiederum in Körperdarstellungen münden. Die Frage aber, die sich umgekehrt aus der filmischen Perspektive an die experimentelle Theater- und Performance-Szene richtet, lautet: Wie produzieren Theater und Performance Effekte von Wirklichkeit? Welche Verknüpfung besteht dabei zu anderen Medien und welche Interaktionen11 prägen solche Konstellationen zwischen Performance und (aufzeichnenden) Medien? In der Performance sind es >reality bites< von Posen aus diversen Medien-(Kult-)Inszenierungen, die als inserts, als snapshots wie zufällig >geschossene< Bilder aus der Bewegungsperformance übertragen sind. Das Still - als die andere Seite der Kinesis - markiert dabei eine offene Stelle in der Bewegung der Einbildungskraft: da, wo die Grenzen der jeweiligen Darstellungskonzepte sich auftun. Dichotomien wie alt/neu, eigen/fremd, authentisch (bzw. original) und Kopie greifen in diesem schwebenden medialen Übergang von Stasis und Kinesis nicht mehr. Schon Loie Fullers Licht-Spiel hat ein kinematographisches Nach-Spiel: Die Authentizität des Tanzes zwischen Skulptur und Film beglaubigte sich in sich selbst nicht mehr. Eine Sicherung eines ökonomisch verankerten Autor- und Werkprinzips von Authentizität ließ sich selbst durch die Patente, die Loïe Fuller für ihre Licht- und Stoffkreationen erwarb, nicht erreichen. Nachahmung als tänzerische und filmische Simulation, d.h. die schweifende, freibeuterische Übertragung dieser Darstellungsmuster in den Performances diverser Nachahmerinnen, zeichnet sich schon hier, zu Beginn der Avantgarde, nicht mehr in Opposition zu einem starken Begriff des >Originals< aus. Im Spiel der Kopien, noch vor Duchamps' ästhetischem Affront der ready-mades, entfaltet sich im Zeichen der Bewegungssimulakren eine Re-Vision des für Performance und Tanz bislang zentralen Konzepts von Authentizität. Authentizität? Das Bild selbst und die Performance können sie nicht bezeugen; es gibt keine Indices für seine Wahrheit. In die Leerstelle tritt das Karaokeprinzip einer schweifenden und in Übergängen sich vollziehenden Medien-(An-)Verwandlung.
Bild-Sprung: Das Ereignis sprengt das Bild - das Bild selbst überspringt die Stillstellung zwischen Mediendarstellung des Photos, Videos und in der Flüchtigkeit der Bewegung in der Tanzperformance.
Eine Mediengeschichte des Stills und der Pose wäre erst noch zu schreiben: in ihrer Parallelität zu einer Poetik des Tanzes und dessen Figuren des Stills, jenen Pausen und Posen des Nicht-Tanzes, die im Zentrum der Bewegung ruhen. In einer solchen Frage-Konfiguration könnte deutlich werden, in welcher Weise der Bild-Sprung im Blickwechsel je schon prä-figuriert ist: als anhaltende und angehaltene Bewegung. Erst durch filmische Medien jedoch wird sichtbar, dass Tanz und die scheinbare Kontinuität des Bewegungsflusses immer schon aus diskreten Momenten besteht - im Stocken der Zeit, in der Unruhe der Bilder. So performiert der Sprung, eine scheinbar kontinuierliche Bewegung des Abdrucks vom Boden über die Fallkurve bis zur Landung, stets ein Über-Springen jener Zeitschnitte, die durch den Blick, den Augen-Blick, in diese Bewegung eingetragen sind.
Das Photo behauptet - um mit Roland Barthes zu sprechen - die »Wirklichkeit« des Dokumentierten, des Abgebildeten: sein Noëma, so Barthes, sei das »Es-ist-so-gewesen«.12 Gleichzeitig zeigt es auf die Abwesenheit dieses Körpers, der in dem Bild erscheint. Roland Barthes beruft in diesem Zusammenhang das semantische Feld von >spectre< und>spectrumwirklich< Nijinsky ist, ob und wie die Photographie, das Still hier nicht die Inszenierung eines >Anderen< als ein mediales Spektakel betreibt, kann nicht garantiert werden; nicht einmal im Diskurs der Zeugen, etwa von Serge Lifar und Romola Nijinsky, jenen Personen, die das gesamte >Spektakel< organisiert hatten. Das Photo von Nijinskys Sprung zeigt - im Bild-Sprung - das Gespenstische: die Abwesenheit des Tanzes in der angehaltenen Bewegung des Bildes. Es zeigt aber auch jenes Andere des Photos, sein Geisterhaftes - das Mortifizierte und Wiederkehrende; jene Still-Wiedergängerei, die Roland Barthes mit dem Begriff des »spectre« bezeichnete. Dabei ist >spectre< im doppelten Sinn des Wortes zu lesen, in der Bedeutung von Licht-Streuung und in der des Gespenstischen bzw. Geisterhaften. So findet im Wechsel der Medien und als Medien-Archäologie die Geschichte der Brechungen dieses >spectre<, der Beugung von Bewegung als Bild-Sprung, immer wieder eine Fortsetzung.
1. Gilles Deleuzes Theorie des Bewegungsbildes im Film (vgl. ders.: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt a. M. 1989) ist hier nur angespielt - denn tatsächlich geht es im Folgenden nicht um eine filmtheoretische Konzeption der Beziehung von Bild und Bewegung, sondern gerade um Fragen, die primär von einer offenen Beziehung zwischen Tanz/Performance und Bild/Medien ausgehen.
2. Vgl. die Ausführungen von Peter Ostwald, der u.a. die Krankenakten Nijinskys als Quellen auswertete (ders.: »Ich bin Gott«. Waslaw Nijinsky. Leben und Wahnsinn,Hamburg 1997, S. 382f). Vgl. auch Brandstetter, Gabriele: »Anhaltende Bewegung. Nijinskys Sprung als Figur der Undarstellbarkeit«, in: Hofmannsthal-Jahrbuch. Zur europäischen Moderne 9 (2001), S. 163-195.
3. Der Begriff >stasis< bedeutet in der Philosophie (von Platon über die Neu-Platoniker bis zu den Kirchenvätern) Ruhe, Ruhelage, Status und ist der Gegenbegriff zu >kinesis<, Bewegung. >Stasis< meint zugleich aber auch (politische) Unruhe, Aufruhr, Bewegung. Auf diese interessante Dialektik weist Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie hin (vgl. ders.: Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 3 1990, S. 116ff). - Für eine Theorie sowohl des Bildes als auch der Bewegung eröffnet diese Dialektik im Begriff der >Ruhestasis< Perspektiven für eine >Stasiologie< in medienphänomenologischer Hinsicht.
4. Vgl. Crary, Jonathan: Techniken des Betrachtens. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden/Basel 1996, sowie: Crary, Jonathan: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture, Cambridge/Mass. 1999 (ins Deutsche übersetzt von Heinz Jatho unter dem Titel Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002). Es ist eigentlich müßig, diese innerhalb der Medienwissenschaft bekannten Zusammenhänge zu wiederholen; ich greife sie hier nur deshalb und sehr kursorisch noch einmal auf, weil es um die ganz spezifische Konstellation von Tanz/Bewegung, Bild und filmischen Medien im »Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit« geht. Zum psychohistorischen Kontext vgl. Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien: kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. M. 2002.
5. Vgl. Didi-Huberman, Georges: Mouvements de l'air. Etienne-Jules Marey, photographe des fluides, Paris 2004.
6. Helmholtz, Hermann: »Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens« (1868), in: ders.: Vorträge und Reden Bd. 1, Braunschweig 1884, S. 249. - Zur Phänomenologie der Aufmerksamkeit im Horizont von Wahrnehmungstheorien und Medien vgl. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004.
7. Zur Theorie und Geschichte der Unschärfe vgl. die vorzügliche Untersuchung von Ullrich, Wolfgang: Die Geschichte der Unscharfe, Berlin 2002.
8 Murch, Walter: Ein Lidschlag, ein Schnitt. Die Kunst der Filmmontage, mit einem Vorwort von Francis Ford Coppola, deutsch von Ulrich von Berg, Berlin 2004; siehe auch Ondaatje, Michael: Die Kunst des Filmschnitts. Gespräche mit Walter Murch, München/Wien 2005.
9. Murch, S. 40.
10. Ebd., S. 47.
11. Vgl. in diesem Kontext die Studien zur Intermedialität im Siegener Forschungskontext: Formen interaktiver Medienkunst, hrsg. von Peter Gendolla, Norbert N. Schmitz, Irmela Schneider und Peter M. Spangenberg, Frankfurt a. M. 2001.
12. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a. M. 1989, S. 105.
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Kapitel | Seite |
VORWORT | Seite 6 |
Bild-Sprungvon Gabriele Brandstetter | |
Tanz-Theater-Bewegung im Wechsel der Medienvon Gabriele Brandstetter | |
TANZ IN MEDIALER PERSPEKTIVE: LOÏE FULLER | |
Loïe Fuller: Die Tänzerin der Metamorphosenvon Gabriele Brandstetter | Seite 16 |
Serielle Poesie Der Tanz Loïe Fullers zwischen Moderne und Postmodernevon Gabriele Brandstetter | Seite 31 |
PERFORMANCE UND POSTMODERNE | |
Freeing the Voice Performance und Theatralisationvon Gabriele Brandstetter | Seite 44 |
Still/Motion Zur Postmoderne im Tanztheatervon Gabriele Brandstetter | Seite 55 |
GESCHICHTE(N) ERZÄHLEN: MEDIENNARRATIVE | |
Selbst-Beschreibung Performance im Bildvon Gabriele Brandstetter | Seite 74 |
Geschichte(n)-Erzählen in Performances und im Theater der Neunzigerjahrevon Gabriele Brandstetter | Seite 116 |
INTERMEDIALITÄT | |
Stimm-Doubles: Performance mit dem Bildschirm Notizen über >Karaoke<von Gabriele Brandstetter | Seite 135 |
Realismus und Medien im Theater der Neunzigerjahre: Stefan Puchers »Snap-Shots«von Gabriele Brandstetter | Seite 139 |
SYSTEMATISCHE ASPEKTE | |
Unter-Brechung. Inter-Medialität und Disjunktion in Bewegungs-Konzepten von Tanz und Theater der Avantgardevon Gabriele Brandstetter | Seite 160 |
Bild-Löschung als Erzählungvon Gabriele Brandstetter | Seite 182 |
Zu einer Poetologie des Medienwechsels Aufführung und Aufzeichnung - Kunst der Wissenschaft?von Gabriele Brandstetter | Seite 199 |
Anhang | |
Die Autorinvon Gabriele Brandstetter | Seite 212 |
Textnachweis | Seite 213 |
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Zur Autorin
Gabriele Brandstetter
Weitere Beiträge von Gabriele Brandstetter
Still/Motion Zur Postmoderne im Tanztheater
Freeing the Voice Performance und Theatralisation
Realismus und Medien im Theater der Neunzigerjahre: Stefan Puchers »Snap-Shots«
Serielle Poesie Der Tanz Loïe Fullers zwischen Moderne und Postmoderne
Selbst-Beschreibung Performance im Bild
Bibliographie
Beiträge von Gabriele Brandstetter finden Sie in folgenden Publikationen:

Heft 05/2020
Safety first
Theater in Zeiten von Corona

Recherchen 89
Hold it!
Zur Pose zwischen Bild und Performance

Recherchen 78
Fühlt weniger!
Dialoge über Emotionen
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