Sekunden der Unordnung
Bert Neumann über dem Marketing unterworfene Produktionsprozesse
von Ute Müller-Tischler und Bert Neumann
Bert Neumann, Sie haben immer wieder gesagt, dass Sie sich als bildender Künstler verstehen, weil Sie ohne künstlerische Freiheit nicht arbeiten können. Wie kommt es, dass Sie dann doch am Theater gelandet sind?
Tatsächlich habe ich mein erstes Engagement am Stadttheater, das war direkt nach dem Studium, vorzeitig beendet. Ich fühlte mich da fehl am Platz, unfrei, und habe mich auf die Suche nach Alternativen gemacht. Es hat dann einige Jahre gedauert, bis das Angebot mit der Berliner Volksbühne kam. Da konnten wir selbst die Regeln bestimmen, das war ein völlig anderes Gefühl als an anderen Theatern. Das war ein einmaliger Freiraum, verbunden mit Produktionsbedingungen, die mir der Kunstmarkt nicht hätte bieten können.
Wie war es damals, als Frank Castorf Sie an die Berliner Volksbühne geholt hat und Sie zusammen den Theaterbegriff erweitert und so etwas wie eine ästhetische Wende eingeführt haben?
Der Vorgang, dass wir da ein Theater bekommen haben, ohne uns darum beworben zu haben, ohne Lobby und dickes Telefonbuch, so was wäre heute nicht mehr denkbar. Das hatte mit der politischen Situation zu tun, auch mit der Sekunde Unordnung, wenn ein System zusammenbricht. Und mit einer Kulturpolitik, die sich noch auf Risiken einlassen wollte.
Es gab da einen Moment der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten in der ganzen Stadt, billige Mieten und damit Räume für Unabhängigkeit. Die Beschwörung dieses Gefühls ist heute nur noch als Bestandteil von Standortmarketing existent. Und wenn man über diese Dinge redet, kommt man schnell in den Verdacht, von gestern zu sein. Was ja ein Totschlagargument ist, mit dem jede Kritik an der Gegenwart schnell zum Schweigen gebracht werden kann. Jüngstes Beispiel: Li Edelkoort, um mal nicht nur vom Theater zu reden, eine berühmte Trendforscherin, die in ihrem kürzlich veröffentlichten Manifest „AntiFashion“ sehr fundiert und scharf unter anderem darauf hinweist, dass Mode, die ja, wie die Kunst, das Risiko notwendig braucht, immer mehr vom Marketing beeinflusst wird und somit dabei ist, sich aufzulösen. Sie legt sich also mit der Modeindustrie an, und sofort wird sie in den Fashionblogs, die sie gestern noch als höchste Instanz verehrt haben, als verblendet und alt neutralisiert. Ich sehe da absolut Parallelen zur Kunst, auch zum Theater: Auch hier wird der Produktionsprozess mittlerweile zunehmend von Verkaufszahlen und Einschaltquoten beeinflusst. Künstler müssen lernen, sich dagegen zu wehren. Schließlich geht es ganz konkret um die eigenen Produktionsverhältnisse. Und wer das altmodisch findet, den würde ich schlicht als reaktionär bezeichnen.
Witzig in diesem Zusammenhang ist, dass der Volksbühne kürzlich vorgeworfen wurde, den Neoliberalismus im Stadttheater erfunden zu haben, da wir in den Neunzigern für das hippe Szenevolk zielgruppenorientiert, also ganz kalkuliert für einen speziellen Markt produziert hätten. Aber genau das haben wir eben nie getan. Das ist unser Erfolgsgeheimnis! Dass uns die Einschaltquote herzlich egal war und wir einfach das gemacht haben, was wir selber gut fanden, ganz egoistisch.
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