„Endstation Amerika“ in Santiago de Chile, „Der Meister und Margarita“ in Moskau, „Pension Schöller: Die Schlacht“ in Belgrad, „Dämonen“ in Paris – Frank Castorfs transhistorische und transgeografische Ästhetik hat ausgehend vom Mutterschiff Volksbühne durch regelmäßige Gastspiele Theatergänger, Kritiker und Künstler auf der ganzen Welt beeinflusst. Doch wie verortet sich sein Denken und Inszenieren „einmaliger Realitäten“ im Umfeld anderer ästhetischer, kultureller und vor allem auch politisch-gesellschaftlicher Kontexte? Wie wirken seine Literaturadaptionen auf ein russisches Publikum? Wie sein wildes, existenzielles, auf größtmögliche Freiheit setzendes Schauspielertheater auf Regisseure in China? Welche gedanklichen Spitzen setzt er? Welche ästhetischen?
Das Arbeitsbuch 2016 stellt die Theaterarbeit Frank Castorfs in ihrer internationalen Wahrnehmung vor, erinnert an seine Anfänge im Vorpommerschen Anklam, kartografiert sein Schaffen an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und fokussiert diese Rundumschau in übergreifenden Aspekten wie „Mediale Strategien“ (Alexander Kluge), „Philosophische Interpretationen“ (Boris Groys), „Ost- West-Transformationen“ (Carl Hegemann). Zudem veröffentlichen wir die Rede, die Frank Castorf anlässlich der Verleihung des Großen Kunstpreises der Akademie der Künste, Berlin, im März 2016 hielt.
Mit Beiträgen von Bernardo Cavalho, Joachim Fiebach, Boris Groys, Durs Grünbein, Carl Hegemann, Meng Jinghui, Alexander Kluge, Matthias Lilienthal, Olaf Nicolai, Thomas Ostermeier, Rafael Spregelburd, Krzysztof Warlikowski u. a.
Dieses Arbeitsbuch über Frank Castorf zeigt einen Regisseur und Künstler, der über vier Jahrzehnte an den verschiedensten Theatern – vor allem an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, aber eben nicht nur dort – mit seiner Arbeit das Theater verändert hat. Castorf ist längst zu einem internationalen Phänomen der vielschichtigsten Art geworden, das in Theaterkulturen von Südamerika bis nach Skandinavien, von Ex-Jugoslawien bis in Länder des ehemaligen Ostblocks, von Asien bis nach Nordamerika hineinwirkt. Eine Voraussetzung dafür war ohne Zweifel der internationalisierte Gastspielbetrieb der Festivals weltweit. Noch vor 1989 gab es als Auftakt das erste Gastspiel in Warschau – und damit an dem Ort, wo Bertolt Brechts internationale Theaterkarriere mit dem Berliner Ensemble begann. Festivalgiganten wie das BITEF in Belgrad, aber auch das Programm des MC93 Bobigny in Paris wurden früh auf Castorf aufmerksam, während andere Veranstalter den Inszenierungen dieses Regisseurs noch als Gerücht nachforschten.
Das Interesse an Castorfs Arbeit ist mit der Internationalisierung des Theaters allein nicht erklärt. Diese war aber eine Voraussetzung, dass man sein politisches Theater – Adaptionen bekannter Stücke und Romane in unmittelbarer und hochkomplexer Deutung – vielerorts sehen konnte. Die internationale Wirkung beruhte unter anderem darauf, dass Castorfs Inszenierungen in Schichtungen von Geschichte angelegt sind, die sich nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch Räume und Kulturen bewegen. Nicht so, wie es ein Globalisierungstheoretiker erklären würde, sondern allein, wie Castorf diese Schichten geografisch driften und aufeinanderprallen lässt. Der Bungalow-Container von „Endstation Amerika“ mit seinen DDR-Versatzstücken ist irgendwie in New Orleans angespült worden und beherbergt einen Solidarność-Veteranen, der mit Lech Wałęsa einst Tischtennis spielte und nun zum neuen Prekariat gerechnet werden muss. Als „Endstation Amerika“ dann endlich nach Polen kam, wurde im Zuschauerraum in Wrocław ein Transparent entrollt: „Brauchen wir einen polnischen Castorf?“ – Jan Klata, als Regisseur damals in seinen Anfängen und heute Intendant des Narodowy Stary Teatr in Krakau, reflektiert die Wirkungen dieses Theaters, das an vielen anderen Orten der Welt Regisseure und alle, die im Theater arbeiten und leben, zu Aufbrüchen beflügelte. Manchmal geschah dies auch im spontanen Widerspruch, der sich produktiv weiterentwickelte – bei völliger Verblüffung vieler Schauspieler, Jungdramaturgen und Kritiker, wie es zum Beispiel der taiwanesische Lyriker und Regisseur Hung Hung über ein Gastspiel in Taipeh beschreibt.
Das Arbeitsbuch möchte zudem die schroff zusammengesetzten Formen Castorfs aufgreifen. Castorfs Verschiebungen von realen Orten in Theaterräume stellt der Künstler Olaf Nicolai für dieses Buch in einer Bildcollage vor, die aus einer umfangreichen ikonografischen Recherche heraus entstanden ist – demgegenüber stehen die mit Realien surreal angereicherten Bühnenräume von Aleksandar Denic. Durs Grünbein liefert mit der Erinnerung an eine frühe Castorf-Arbeit ein weiteres Beispiel für solche Verschiebungen von Zeiten und Kontexten, die Alexander Kluge in seinem ausführlichen Gespräch mit Frank Castorf aufgreift und auch Boris Groys im Dialog mit Carl Hegemann weiterbewegt. Joachim Fiebach, in den siebziger Jahren einer der Lehrer Castorfs an der Humboldt-Universität Berlin, steuert einen Vortrag bei, der in den USA auf den politischen Castorf aufmerksam machen sollte, wegen eines Schneesturms in Colorado jedoch ausfiel. Das kann passieren und taucht wie in Castorfs Inszenierungen als kantige Reflexion der Welt wieder auf – und hier nun ein in diese vorliegende Castorf-Maschine.
Dorte Lena Eilers, Thomas Irmer und Harald Müller