
Recherchen 48
Die Zukunft der Nachgeborenen
Von der Notwendigkeit, über die Gegenwart hinauszudenken
Herausgegeben von Therese Hörnigk und Sebastian Kleinschmidt
Paperback mit 208 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-934344-51-8
Brecht war kein Dichter der Zukunftshoffnung und erst recht keiner der Zukunftsphantasien. Aber er war ein Kritiker des bürgerlich-kapitalistischen Weltzustandes und ernsthaft an Veränderung interessiert. So konnte er nicht umhin, die Grenzen der Gegenwart zu überschreiten und sich ins offene Gelände, in die Zukunft zu begeben.
Die Brecht-Tage 2007 beschäftigten sich mit einer Frage, die in der dreißigjährigen Geschichte dieses respektablen Kolloquiums bisher nicht erörtert worden ist, der Frage nämlich, was Brecht über die Zukunft dachte und was wir, die wir heute leben, über sie denken. Das Thema lautete: »Die Zukunft der Nachgeborenen. Von der Notwendigkeit, über die Gegenwart hinauszudenken«.
Es gibt zwei Gedichte, in denen Brecht sich ausdrücklich an die kommenden Geschlechter gewandt hat. Das eine, geschrieben 1920, heißt Den Nachgeborenen, das andere, entstanden zwischen 1934 und 1938, heißt An die Nachgeborenen. Letzteres endet mit den zuversichtlichen Zeilen: »Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / konnten selber nicht freundlich sein. // Ihr aber, wenn es soweit sein wird / Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.«
Das Gedicht von 1920 dagegen besitzt keinen Funken Zuversicht. Es lautet: »Ich gestehe es: ich / Habe keine Hoffnung. / Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich / Sehe. // Wenn die Irrtümer verbraucht sind / Sitzt als letzter Gesellschafter / Uns das Nichts gegenüber.«
1955, ein Jahr vor seinem Tod, hatte Brecht testamentarisch verfügt, dass »weder am Sarg noch am Grab gesprochen, höchstens das Gedicht An die Nachgeborenen verlesen wird«. Er wollte, dass nicht die düstere, sondern die helle, die erwartungsfrohe Botschaft sein letztes Wort an die Nachwelt sei.
Es ist noch nicht lange her, da stand alles, was mit Zukunft, sprich philosophisch begründeter besserer Zukunft, verbunden war, in hohem Ansehen. Die intellektuelle Luft war gleichsam erfüllt vom wärmenden Vorschein des Kommenden. Für einen kühlen Satz wie den des konservativen Basler Historikers Jakob Burckhardt »Eine vorausgewußte Zukunft ist ein Widersinn« hatte die Welt kein Gehör.
Heute ist die Lage anders. Die Grundstimmung in Sachen Politik und Gesellschaft ist Erwartungslosigkeit. Transzendieren der Gegenwart und Antizipieren der Zukunft wird als Utopie abgestempelt, Utopie verstanden als naives Wunschbild, unausführbarer Plan, Vorstellung ohne reale Grundlage. Die Hoffnung auf Weltverbesserung und der Glaube an den Fortschritt sind von der Bühne abgetreten, auch von der Bühne des Theaters. Binnen weniger Jahrzehnte hat sich die europäische Wahrnehmung von Zeit und Geschichte grundlegend geändert. Unsere Gesellschaften werden nicht mehr von dem Gefühl getragen, »in die offenen Arme der Zukunft hineinzuleben« (Arnold Gehlen).
Obgleich auch wir, einstige Erbauer einer besseren Welt, begriffsgläubige Kinder des Prinzips Hoffnung, spätestens 1989 philosophisch aus dem Futur in die Gegenwart zurückgekehrt sind, aus den Wonnen der Verheißung und der prometheischen Ambition in die nüchterne Jetztzeit, können wir geistig nicht ewig nur in der Gegenwart leben. Und schon gar nicht nur in der Geschichte. Denn bei all den Lasten, die sie uns auferlegt, und ungeachtet dessen, dass sie uns ab und zu auch wieder Mut macht, ist Geschichte stets ein Geschehen, das zurückliegt, etwas, von dem nichts mehr zu erhoffen, aber auch nichts mehr zu befürchten ist. Beunruhigend im eigentlichen und ursprünglichen Sinne ist immer das, was bevorsteht, was wir Zukunft nennen, das, wovon es noch kein Wissen und natürlich keine Erinnerung gibt, aber auch keine Pläne mehr und keine Programme. Und so müssen auch wir, Nicht-Futuristen, die wir inzwischen sind, uns abermals fragen, was wir denn wollen und was wir denn erwarten.
Brecht war nicht wie Stanis?aw Lem, der von sich sagte, er besäße nur eine einzige Fähigkeit, nämlich die, über das Morgen zu schreiben. Brecht war kein Dichter der Zukunftshoffnung, der unangefochtenen Zukunftshoffnung, und erst recht keiner der Zukunftsphantasien. In Me-ti heißt es: »Hütet euch die Diener von Idealen zu werden; sonst werdet ihr schnell die Diener von Pfaffen sein.« Szenen oder Bilder einer besseren Welt gibt es nur wenige bei ihm. Aber er hatte viel zu sagen über die sozialen Gegebenheiten seiner eigenen Zeit. Er war ein scharfblickender Kritiker des kapitalistischen Wirtschaftslebens, seiner Krisen, seiner Kälte, seiner Duell-Mechanik, und ernsthaft interessiert an Veränderung. Und so konnte er, getreu der eigenen Maxime »der denkende liebt / die welt wie sie wird«, nicht umhin, sich auch über die kommenden Dinge Gedanken zu machen. Wenn er über den Revolutionär, über kollektive Befreiung, über Modelle der Änderbarkeit des Verhaltens, über Lernen und Lehren, Weisheit und Freundlichkeit, Altes und Neues, den Kommunismus, die Große Ordnung oder die Bewohnbarkeit der Welt schreibt, überschreitet er die Grenzen der Gegenwart und begibt sich ins offene Gelände, in die Zukunft.
Das Thema Brecht und die Zukunft ist auch deshalb interessant, weil es bei Brecht eine Periode gab, in der er, wie viele heute, wenig von der Zukunft wissen wollte. Im Baalschen Weltgefühl war nichts von Zukunft. Die expressionistischen Dichter mit ihrer »neuen Welt«, ihrem »neuen Menschen« hat Brecht verlacht. Baal – das hieß Gegenwart und Genuss, hieß Liebe, Blasphemie und Todesfurcht, hieß Anarchie und Nihilismus. Nach 1926, nach der Begegnung mit dem Marxismus, änderte sich Brechts Welteinstellung.
Die Dimension der Zukunft im Werk von Brecht zu untersuchen bedeutet nicht, in gewohnter Weise kritisch oder apologetisch seine Geschichtsphilosophie zu erörtern, sondern es bedeutet, Fingerzeige auf heute vorstellbare Wege aus der Gegenwartsgefangenschaft, aus der Jetztzeitverfallenheit zu geben, und es bedeutet auch, die Zukunft zu sehen nicht wie Apokalyptiker oder Evangelisten sie sehen oder wie Resignierte, sondern wie neugierige, skeptische Zeitgenossen, die das Kommende, egal ob angenehm oder unangenehm, nüchtern in Betracht ziehen.
In welchen Farben wir die Zukunft malen, das hängt nicht nur vom Alter ab, obwohl es doch heißt, man muss jugendlich sein, um in die Zukunft zu blicken. Es hängt davon ab, wie wir die Gegenwart sehen. Ingeborg Bachmann ist überzeugt: »Wo nichts mehr zu verbessern, nichts mehr neu zu sehen, zu denken, nichts mehr zu korrigieren ist, nichts mehr zu erfinden und zu entwerfen, ist die Welt tot.« Tote Welt heißt versteinerte Welt. In einer solchen Welt fallen Wirklichkeit und Wahrheit, Faktizität und Geltung zusammen. Den Zufriedenen möge es recht sein. Zukunftsbewusstsein wäre nicht mehr nötig. Aber Brecht ist nicht der Dichter der Zufriedenheit. Er war ein Dichter des Aufbegehrens. Unter Zukunft verstand er mehr als nur die gewohnheitsmäßige Fortsetzung des Bestehenden. Deshalb wollte er sie nicht aus den Augen verlieren. Und auch wir sollten es nicht.
Sebastian Kleinschmidt
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