
Recherchen 90
Einfachheit & Lust & Freiheit
Theater zwischen freier Wildbahn und städtischer Institution
Herausgegeben von Christin Bahnert und Armin Kerber
Paperback mit 140 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-942449-30-4, Originalpreis: € 14,00
Dieses Buch ist leider vergriffen
Das Theaterhaus Jena ist seit zwanzig Jahren eine einmalige Institution in der deutschsprachigen Theaterlandschaft: Im Spannungsfeld von Stadttheater und freier Produktionsstätte haben sich verschiedene künstlerische Teams die Erforschung experimenteller theatraler Produktions- und Ausdrucksweisen, die Erprobung neuer Arbeitsstrukturen sowie die Förderung von soziokultureller Arbeit zur Aufgabe gemacht und sind damit regional und überregional auf Erfolgskurs. Das Buch beschreibt die Erfahrungen mit dem „Modell Theaterhaus" und fragt danach, wie viel Institution das freie Spiel benötigt und wie viel Freiheit unabhängig von Institution möglich ist: Wie scheitert man mit Erfolg? Was brauchen glückliche Produzenten? Wie flurbereinigt man eine Kultur-Landschaft?
Mit Beiträgen von Christin Bahnert, Nicola Bramkamp, Till Briegleb, Barbara-David Brüesch, Markus Heinzelmann, Michael Helbing, Rainer Hofmann, Christian Holtzhauer, Armin Kerber, Rebekka Kricheldorf, Mieke Matzke, Sven Schlötcke, Annemie Vanackere, Jonas Zipf u. a.
Christin Bahnert ist Leitende Dramaturgin und Künstlerische Leiterin des Theaterhauses Jena und ab Herbst 2011 freischaffende Dramaturgin und Produktionsleiterin.
Armin Kerber ist als Dramaturg, Kurator, Intendant seit 25 Jahren an diversen künstlerischen Orten zwischen Freier Szene und High-Culture-Institutionen unterwegs, darunter Kampnagel Hamburg, Gessnerallee Zürich, Zentrum Paul Klee Bern, Nederlands Danse Theater Den Haag, Oper Göteborg und DU-Redaktion Zürich.
1.
Freies Theater - so einfach, klar und programmatisch war der Titel eines schmalen rororo-Taschenbuchs, das vor genau dreißig Jahren herausgekommen ist. Zum ersten Mal wurde damit im deutschsprachigen Raum eine grundlegende Standortbestimmung des „Freien Theaters" versucht: Das Spektrum reichte vom Living Theatre über Django Edwards, Joseph Beuys, den Kabarettisten Drei Tornados und diversen Mitspiel-Gruppen bis hin zu Jacques Lecoq und dem Armen Theater von Jerzy Grotowski. Die Ikone, an dem die ganze Szene festgemacht wurde, war die Figur des Narren, die künstlerische Perspektive führte zurück zum mittelalterlichen Jahrmarktstheater.
Vergebens sucht man Begriffe wie Projekt, Subvention, Experiment, Koproduktion, Langzeit-Finanzierung, dafür stößt man auf Utopie, Ani- mation und immer wieder auf Freiheit - wobei Freiheit vor allem für freie Wildbahn unter freiem Himmel steht. Der Begriff „Stadttheater" kommt - wenn überhaupt - nur als ein abgespielter Ort vor, den man weit hinter sich gelassen hat, er klingt dabei mehr nach Stadthalle oder Stadtrundfahrt als nach Kunst oder Konkurrenz. Das „Freie Theater" in seiner Gründerzeit verhielt sich zum Staatstheater wie die APO zum Parlament. Noch kein Hauch ist zu spüren vom heutigen „Post"-Zeitalter der Postmoderne und Postdramatik, stattdessen herrscht der hoffnungsvolle Geist des „Prä" im Sinne von Ernst Blochs „Vorschein" einer besseren Welt, als deren theatrale Abgesandte aus der Zukunft man in die kalte Welt des Spätkapitalismus geschickt war, der schon längst zur Makulatur erklärt worden war.
Bekanntlich haben dann die neunziger Jahre eine neue Formenspra- che von radikaler Verlangsamung und gleichzeitiger intensiver Be- schleunigung hervorgebracht. Dieser Paradigmen-Wechsel wurde von Regisseuren wie Robert Wilson, George Tabori in seinem Wiener Kreis- Theater, Frank Castorf an der Volksbühne Berlin und dem Lecoq-Schüler Christoph Marthaler vollzogen, und zwar in Abgrenzung gegen das Establishment der 68er-Chefs in den großen Häusern und gegen die al- ternativen Gaukelkünste auf der grünen Wiese. Die freie Wildbahn war als Schocktheater in den Institutionen angekommen, die Freie Szene hat sich gleichzeitig den schützenden Mantel der institutionellen Förderung umgelegt und dabei mit Jammern und Klagen darüber nicht gegeizt, dass ihre kargen Behausungen auf der freien Wildbahn wesentlich weniger Subvention erhalten als die Prunkschlösser der Staatstheater.
Heute, im Jahre 2011, macht der Rückblick vor allem eines klar: Das Verhältnis von Staatstheater und Freier Szene lässt sich nicht mehr in Kategorien von Rückschritt und Fortschritt, Establishment und Opposition oder Hase und Igel beschreiben. Tatsächlich haben wir es mit zwei parallelen Theater-Institutionen mit unterschiedlichen, aber klar definierten Spielregeln zu tun. Sie funktionieren unabhängig voneinander und besitzen gelegentliche Schnittmengen wie ein S-Bahn- und ein U- Bahn-System in einer Großstadt. Die Tatsache, dass das eine System wesentlich mehr öffentliche Gelder benötigt als das andere, kann nicht mehr dem „ärmeren" System als Legitimation dienen, die Existenz des anderen moralisch oder ästhetisch in Frage zu stellen und sich selbst den Kreativitätsausweis als Dauer-Abonnement auszustellen. Künstlerische Innovation ist von beiden Seiten gefragt, die Forderung nach institutionellen Überlebens-Garantien muss für alle beteiligten Player auf dem Platz gelten. Ein Blick in die Kunstwelt ermöglicht hierzu eine interes- sante Analogie: Dort waren es in den siebziger Jahren die Kunsthallen, die unter den Stichworten Flexibilität, Experiment und Provokation eine Alternative zu den etablierten Kunstmuseen mit ihren Sammlungen und Blockbuster-Ausstellungen errichteten. Inzwischen gehört der Double-Take von Kunstmuseum und Kunsthaus fast selbstverständlich zum kulturellen Profil einer künstlerisch gut aufgestellten Stadt.
In diesem Sinne steht heute die grundsätzliche Frage eines Double- Takes zur Diskussion: Wollen wir weiterhin eine Landschaft von Stadt- theatern mit festem Ensemble, breit gefächertem Repertoire und klar definiertem Leistungsauftrag - und zugleich ein Netz von Freien Theaterhäusern mit variabler Spielfrequenz und institutionell abgesichertem Risiko des experimentellen Scheiterns? Konflikt und Konkurrenz, Arroganz und Ignoranz haben auf alle Fälle nichts mehr zu suchen auf einem Spielfeld, dessen hauptsächliche Attraktivität in der Herausforderung besteht, eine „arschlochfreie Zone" zu bilden - um es in der Terminologie von aktuellen Managementkonzepten zu sagen.
Soweit zum Stand der Dinge der subventionierten Theaterwelt zwischen städtischer Institution und freier Wildbahn. Und Szenenwechsel zu einem besonderen Geburtstag, der es auf wunderbare Weise möglich macht, die sich kreuzenden Spuren zwischen freien Institutionen und städtischen Wildbahnen weiter zu verfolgen.
2.
Das Theaterhaus Jena hat Geburtstag und macht sich selbst dieses Buch zum Geschenk. Zwanzig Jahre Theaterhaus Jena bilden den Anlass, nicht einfach eine lexikalisch-museale Festschrift zu publizieren, sondern ein spannendes Szenario des kritischen Nachdenkens und der lustvollen Diskussion zu entwerfen. Zwanzig Jahre Theaterhaus Jena heißt: zwanzig Jahre der Versuch, unter einfachen Bedingungen einen Ort der Freiheit zu schaffen mit einem Modell von Theater, das sich mit seinen experimentellen Produktions- und Ausdrucksweisen, mit flachen Hie- rarchien und mit dem Versuch demokratischer Mitbestimmung aller künstlerischen und technischen Mitarbeiter bewusst im Spannungsfeld von Stadttheater und freier Produktionsstätte bewegt.
Am 29. November 1991 eröffnete die erste Künstler-Generation das Theaterhaus in einer politischen Situation, in der alles möglich schien. Der Theaterbau, die Ruine des ehemaligen Jenaer Stadttheaters ohne Zuschauerraum, der nach flexiblem Spiel mit der Bühnen- und Zuschauer- situation verlangt, definiert dabei bis heute programmatisch die besondere Ästhetik des Hauses. Anlässlich dieses Geburtstages haben wir im Mai 2011 in Jena ein Symposium veranstaltet, dessen Diskussionen in diesem Buch weitergeführt werden. Eingeladen waren neben aktuellen und ehemaligen Künstlern des Theaterhauses Jena weitere Theaterma- cher, die an der Schnittstelle von Freier Szene und Stadttheater arbeiten, sowie Kulturpolitiker und Journalisten, die mit der Materie seit vielen Jahren vertraut sind. Einige der Gäste haben hier ihre Erfahrungen zusammengefasst, gleichzeitig haben wir noch weitere Künstler und Autoren zur Mitarbeit an diesem Buch eingeladen. Einig ist sich das Theaterhaus Jena mit allen eingeladenen Autoren: Es geht nicht darum, das Modell des Stadttheaters und der Freien Szene gegeneinander auszuspielen, sondern um die konstruktive Diskussion einer Modell-Landschaft mit wechselseitiger Akzeptanz und kreativen Schnittstellen.
3.
Das erste Kapitel überprüft unter der Fragestellung „Wie flurbereinigt man eine Kultur-Landschaft?" die Koordinaten der kulturpolitischen Positionierung von Stadttheater und Freier Szene: Till Briegleb, langjähriger Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, hält ein entschiedenes Plädoyer gegen Monokultur, Christian Holtzhauer, Dramaturg am Schauspiel Stuttgart und zuvor in der Freien Szene Berlins unterwegs, berichtet anhand einer Staatstheater-Reise mit dem „Orient-Express", was man von der Freie Szene lernen kann. Die Niederlande dienten jahrelang als utopisches Gegenmodell zum hiesigen Theater-Feudalsystem. Der deutsche Dramaturg Rainer Hofmann, seit einem Jahr Künstlerischer Leiter des Theaters an der Werft in Utrecht, und Annemie Van- ackere aus Rotterdam, designierte HAU-Chefin in Berlin, informieren, wie es dort wirklich aussieht nach dem kulturpolitischen Kahlschlag.

Im zweiten Kapitel kommen die Künstler selbst zu Wort und geben ihre unterschiedlichen Antworten auf die Frage: „Was brauchen glückliche Produzenten?" Die Schweizer Regisseurin Barbara-David Brüesch und Mieke Matzke von She She Pop unterhalten sich über Autonomie und Selbstbestimmung, Tomas Schweigen und Vera von Gunten von der freien Gruppe FAR A DAY CAGE schildern ihre praktischen Koproduktions-Erfahrungen mit dem Theaterhaus Jena, der Autor und Performer Andreas Liebmann fragt nach, ob die Freie Szene bereits wie eine Firma funktioniert. Der Regisseur Niklaus Helbling berichtet von seinem Zebra-Dasein zwischen den Theater-Welten und die Autorin Rebekka Kricheldorf gibt eine Gebrauchsanweisung, wie einfach es ist, sie glücklich zu machen.
Das dritte Kapitel landet mit der Fragestellung „Experiment: Kür oder Pflicht?" im Theaterhaus Jena, das bekanntlich das einzige Theater Deutschlands ist, dessen Leistungsauftrag experimentelles Arbeiten lautet. Michael Helbing, Theaterkritiker in Weimar, begibt sich auf die Suche nach Freiheit in der thüringischen Theaterlandschaft, Sven Schlötcke, Mitbegründer des Theaterhauses Jena und heute Künstleri- scher Leiter des Theaters an der Ruhr, sucht ebenfalls: nach dem Geist der Freiheit, der in den Mauern des Theaterhauses zu wohnen scheint. Christin Bahnert und Markus Heinzelmann, die zuletzt gemeinsam das Theaterhaus Jena leiteten, plädieren dafür, Jena nicht als Modell zu verstehen, wie man mit wenig Geld gutes Theater machen kann. Jonas Zipf, Mitglied der neuen Künstlerischen Leitung, hat den abgerissenen Zuschauerraum des Theaterhauses vor Augen und denkt dabei über eine offene Theaterarchitektur für das Stadt-Theater der Zukunft nach. Und Nicola Bramkamp, eine Spielzeit lang Dramaturgin in Jena und seitdem am Schauspielhaus Hamburg, findet in den Freiheiten bei der Spielplangestaltung im Theaterhaus das Dramaturgenparadies.
Und zum Schluss gibt's eine Chronik mit allem, was in Jena passiert ist im Laufe der letzten zwanzig Jahre.
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!
Christin Bahnert und Armin Kerber Herbst 2011
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
POLITIK: WIE FLURBEREINIGT MAN EINE KULTUR-LANDSCHAFT? | |
Das duale Systemvon Till Briegleb | Seite 12 |
Unterwegs in Europavon Christian Holtzhauer | Seite 17 |
In the Dutch Mountainsvon Rainer Hofmann | Seite 26 |
Ist die Lust am Konflikt eine Frage der Kraft?Annemie Vanackere im Gespräch mit Armin Kerbervon Armin Kerber und Annemie Vanackere | Seite 34 |
PRAXIS: WAS BRAUCHEN GLÜCKLICHE PRODUZENTEN? | |
Lust auf FreiheitBarbara-David Brüesch und Mieke Matzke im Gespräch mit Armin Kerbervon Armin Kerber, Annemarie Matzke und Barbara-David Brüesch | Seite 46 |
Lust auf Patchworkvon Tomas Schweigen und Vera von Gunten | Seite 59 |
Spiel der Perspektivenvon Andreas Liebmann | Seite 64 |
Zettel von Zebra für Arminvon Niklaus Helbling | Seite 69 |
Du willst einen glücklichen Autor?von Rebekka Kricheldorf | Seite 71 |
JENA: EXPERIMENT – KÜR ODER PFLICHT? | |
Weites Land sucht leere Räumevon Michael Helbing | Seite 76 |
Idiotes oder das dunkel des gelebten Augenblicksvon Sven Schlötcke | Seite 82 |
Wie backe ich mir ein Paradiesvon Markus Heinzelmann und Christin Bahnert | Seite 90 |
Wegen Umbau geschlossenvon Jonas Zipf | Seite 94 |
Spielplan ohne Kompromissvon Nicola Bramkamp | Seite 101 |
Chronik | |
Chronik 1991 bis 2010von Christin Bahnert und Andrea Hesse | Seite 106 |
Autorinnen und Autoren | Seite 130 |