
Kunst ist nicht erlaubnispflichtig
Das Landestheater Tübingen in der Intendanz von Simone Sterr
Herausgegeben von Otto Paul Burkhardt und Simone Sterr
Paperback mit 176 Seiten, Format: 292 x 230 mm
ISBN 978-3-943881-72-1
Mit zahlreichen Aktionen und Interventionen im Stadtraum startete das Team um Intendantin Simone Sterr im September 2005 in Tübingen. Brauchen wir für alles eine Genehmigung, fragten sie sich. „Kunst ist nicht erlaubnispflichtig“, lautete der Kommentar des Leiters des Ordnungsamtes der Universitätsstadt. Ein erstaunlicher Kommentar, eine vielversprechende Begrüßung. Und eine Einladung, die Freiheit des Theaters, seine anarchische Kraft jenseits der Konventionen lustvoll durchzuspielen. Dieser sind sie gefolgt.
Neun Jahre lang wurde den finanziellen Zwängen vor Ort und der strukturellen Beschränkung einer Landesbühne zum Trotz hochwertiges Ensembletheater gemacht. Ein von Anfang an zeitgenössischer europäischer Spielplan, interessante Wiederentdeckungen aus der Mode geratener klassischer Werke, der Blick nach Osteuropa, speziell nach Russland, und die Bespielung ungewöhnlicher Orte der Stadt waren die Schwerpunkte der Arbeit. Das Buch führt die Inhalte und die wichtigen thematischen Auseinandersetzungen in Interviews, Berichten, Porträts noch einmal zusammen.
Simone Sterr hat ihre ersten Theatererfahrungen in der Dramaturgie am Stadttheater Konstanz bei Ulrich Khuon und bei Hans- Jürgen Drescher in Mannheim gemacht. Danach wurde sie verantwortliche Dramaturgin des Schloßtheaters in Celle. Es folgten Regiearbeiten in Hannover, Konstanz, Pforzheim, Erfurt, sie wurde in Celle Künstlerische Leiterin einer eigenen Spielstätte. Als Spartenleiterin des Kinder- und Jugendtheaters war sie am Stadttheater Würzburg, dann als Dramaturgin und Regisseurin am Stadttheater Gießen. 2002 übernahm sie als damals jüngste Intendantin der Republik die Leitung des Theaters der Stadt Aalen. Seit 2005 ist sie Intendantin des Landestheaters Tübingen, dem sie mit ihrem Team ein unverwechselbares Profil verleiht. Als Regisseurin hat Simone Sterr über 20 Inszenierungen verantwortet.
Kunst ist nicht erlaubnispflichtig
100 Menschen laufen mit Radios am Ohr durch die Stadt. Auf einer Bauruine steht ein chinesischer Investor und ruft Tübingen als neue Hochburg der Textilindustrie aus, inklusive Dumpingpreise und Kinderarbeit. Im Neckar droht ein Ensemblemitglied zu ertrinken, und die Menge wird aufgefordert, doch im wahrsten Sinne des Wortes einzuspringen für ihr Theater. Das Wasser des Stadtbrunnens wird an Passanten verkauft, und ein Demonstrationszug (ungenehmigt!) rauscht über die Hauptverkehrsader der Innenstadt. So geschehen beim „Radiospaziergang“ zur Eröffnung der Spielzeit 2005/06. „Wenn wir das alles anmelden, kriegen wir das nie durch“, fürchteten wir. „Kunst ist nicht erlaubnispflichtig“, sagte der Leiter des Ordnungsamtes Rainer Kaltenmark. Das war mehr als ein Willkommen. Es war ein Bekenntnis zur Freiheit, eine Einladung, die anarchische Energie und die subversive Kraft des Theaters zu nutzen.
Das haben wir getan. Neun Jahre lang. Dieses Buch soll ein unaufdringlicher Rückblick sein, eine leichte Erinnerung an das, was wir versucht und erforscht haben.
Neben der theatralen Intervention und dem direkten Dialog ging es uns immer um die Fähigkeit des Theaters, komplexe Zusammenhänge sichtbar zu machen, die Vernetzung von Themen zu beschreiben. Deshalb ist dieses Buch in thematische Blöcke aufgeteilt. Deshalb haben wir es so vielstimmig und disparat gestaltet, wie das Theater es auch ist.
Das Wesen des Theaters ist seine materielle Flüchtigkeit. Die wahren Glücksmomente, die zwischen Bühne und Publikum entstehen, sind in ihrer Einzigartigkeit nicht zu dokumentieren. Dennoch haben wir es für angemessen gehalten, dieses Buch zu machen.
Es soll mehr sein als eine Chronik und weniger als eine Selbstbespiegelung.
Lesen, stöbern, schauen Sie. Ärgern Sie sich über das, was Sie verpasst haben, und freuen Sie sich daran, dabei gewesen zu sein.
Allen, die für dieses Buch gearbeitet haben, die Texte geschrieben, im Archiv gestöbert, korrigiert und redigiert haben, an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön für die unsentimentale und schöne Arbeit.
Nicht alle uns zugesandten Beiträge konnten wir aufnehmen. Auch das gehört zum Theater: Am Ende gibt es immer zu viel kreatives Material, als zu wenig.
Simone Sterr
LTT-Intendantin
Ja, seh’ ich recht?
Schon das erste Spielzeitheft 2005/06 war ein Kuriosum: ein roter Reiseatlas, in dessen Karten so wunderliche Orte wie „Fluchtpunkt“ und „Siebter Himmel“ eingezeichnet waren. Theater als Navigationshilfe in unübersichtlichen Zeiten – warum nicht? Das LTT unter Intendantin Simone Sterr ging mit dem Publikum auf Erkundungsreise und prägte ein eigenwilliges Profil aus: Unbekanntes von bekannten Autoren, viel zeitgenössisches, viel osteuropäisches Theater – und immer wieder der Blick in die Weite, in die Ferne, Stücke von Kanada bis Sibirien. Theater der Welt!
Jetzt sind es neun Jahre geworden. Simone Sterr war die erste Frau an der Spitze des LTT, die erste Intendantin in der Geschichte des Hauses. Sie hat es am zweitlängsten von allen Chefs hier ausgehalten (2005 – 2014) – nur Fritz „Papa“ Herterich war noch länger hier. Die Ahnenreihe, wir wissen es, ist gewaltig. Gerade auch für langjährige LTT-Geher wie mich, die noch Yaak Karsunkes „Bauernoper“ (UA 1973) unter Intendant Manfred Beilharz im Ohr haben, als das studentenbewegte Publikum mitsang: „1525, dran, dran, dran!“
Das vorliegende Buch will die neun Spielzeiten der Intendanz Simone Sterr nicht noch einmal herunterbeten. Es soll eher den kreativen Unruhe-Geist beschreiben, der in dieser Ära das LTT beflügelte. Mitarbeiter und Weggefährten kommen zu Wort: Eine Ex-Dramaturgin erinnert sich noch gut an die „kindliche Anarchie“ der Anfänge, die ihr ein bisschen wie theatrales „Guerilla- Gardening“ vorkamen, und ein Gast-Autor fasst rückblickend „Tübinger Auffälligkeiten“ zusammen – es sei sogar möglich, sich auf dem kurzen Weg zum Theater „zu verlaufen“. Die Intendantin wiederum weiß noch genau, wie der erste Satz hieß, der ihre erste Spielzeit 2005/06 auf der Bühne eröffnete: „Ja, seh’ ich recht?“ Und manch LTT-Neuling, wie zu lesen ist, hielt das Wort „Abstecher“ – die LTT-Gastspiele im Umland – zunächst für eine „blutrünstige“ Angelegenheit. Am LTT dichten auch die Souffleure, da reimt sich dann böswillig holpernd „Turn- und Liederhallen“ auf „ins Probenkoma fallen“.
Das Buch soll keine Chronik, kein Presseecho und keine Grußwort- Abwurfstelle sein. Es möchte eher einen lockeren Längsschnitt bieten, eine vielstimmige Sammlung verschiedener Perspektiven aufs LTT. In rund 70 Beiträgen wollten wir die thematischen Schwerpunkte dieser neun Spielzeiten anreißen, unvergessene Momente dieser Zeit zurückholen und ein bisschen Rückschau halten. Ein Gastregisseur beschreibt mit milder Rückblicks-Ironie die wilden Krisen im Probenprozess: „Tränen fließen, Fäuste werden geschwungen, wir verfluchen uns.“ Am Ende fanden die meisten am LTT den Ensemblegeist beein - druckend, so eine Schauspielerin: „Ich fühlte mich sehr aufge - hoben“ – kein schlechtes Kompliment in einer Hegel-Stadt. Und was wäre das LTT ohne die Kulturamtsleiter im Land, in der angeblichen „Provinz“: Sie sind die Abnehmer der LTT-Gastspiele draußen, und sie rühmen tapfer den Mut des LTT zum Unbekannten, auch wenn der nicht immer quotentauglich war.
Wo immer die Sterr-Truppe spielte, ob im Stammhaus oder unterwegs, ob auf der Neckarinsel oder im Freibad: Sie sorgte für Gesprächsstoff und schuf, auch in der Reibung, so etwas wie eine regionale Theater-Identität. Klar, auch gelegentliches Scheitern gehörte dazu. Aber was blieb, typisch für die Ära Sterr, war die Chuzpe, die Spielfreude, die Entdeckerneugier. Davon soll dieses Buch erzählen.
Otto Paul Burkhardt
„Theater der Zeit“, „Südwest Presse“
Kapitel | Seite |
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Weil die Dinge einfach komplizierter sind. Interview und Programmatik | |
Diesen Furor hatten wir von Anfang anDie Theaterleitung im Gespräch mit Otto Paul Burkhardtvon Otto Paul Burkhardt, Ralf Siebelt, Simone Sterr und Maria Viktoria Linke | Seite 10 |
Das müssen wir machen!von Inge Zeppenfeld | Seite 26 |
Teamarbeit mit freien Radikalenvon Jenke Nordalm | Seite 28 |
Kulturpolitischer Rock‘n’Rollvon Wenzel Banneyer | Seite 30 |
Wie wollen wir leben?von Peter Ertle | Seite 30 |
Duschen und kuscheln im Freibadvon Monique Cantré | Seite 32 |
Weiter so!von Christoph Holbein | Seite 32 |
Wenn man Kinder- und Jugendliteratur macht, muss man mutig seinvon Michael Miensopust | Seite 33 |
Die Theaterlandschaft hält zusammenvon Karin Kontny | Seite 34 |
Identitätsstiftend ins Land hineinvon Albrecht Kroymann | Seite 35 |
Eine Bande von Charakterköpfen. Neun Jahre Ensemblearbeit | |
Eine Bande von Charakterköpfen macht noch kein Ensemblevon Simone Sterr | Seite 48 |
Plädoyer für den unendlichen Spassvon Martin Schultz-Coulon | Seite 50 |
Hier ist Heimatvon Karlheinz Schmitt | Seite 52 |
Vielleicht bin ich Aktivistvon Max Julian Otto | Seite 53 |
Der Disponentvon Ramona Rath | Seite 54 |
Das Pendel muss wild um sich schlagenvon Leif Stawski | Seite 55 |
Als Gast zu Hausevon Marion Bordat | Seite 56 |
Gekommen, um zu bleibenvon Sonja Krainhöfner | Seite 56 |
Freiraumvon Thomas Maos | Seite 57 |
Ort des Träumensvon Ralf Jaroschinski | Seite 57 |
LTT wie lustvoller Torten-Traumvon Uta Krause | Seite 58 |
Ensemble-Geistvon Enrico Lübbe | Seite 59 |
Eine wirklich lange Liste. Lebendiges Autorentheater | |
Geheiltvon Thomas Melle | Seite 73 |
Nina und Paul und anderevon Thilo Reffert | Seite 73 |
Fürs „Heftl“von Mark Polscher | Seite 75 |
Durchgestrichenvon Marion Schneider-Bast | Seite 76 |
Tübinger Auffälligkeitenvon Lutz Hübner | Seite 76 |
Mit Eleganz, Sorgfalt und Einsatzvon Simon Stephens | Seite 77 |
Schön scheiternvon Martin Kreidt | Seite 78 |
Im Osten viel Neues. LTT international | |
Das Eigene im Fremdenvon Ralf Siebelt | Seite 92 |
Deutscher Kerl mit russischen Wurzelnvon Sachar Prilepin | Seite 94 |
Rakua in Mazedonienb – Gastspiel in Skopjevon Benjamin Janssen | Seite 95 |
Über das LTTvon Sergej Pronin | Seite 97 |
Wahrhaft internationalvon Laura Ruohonen | Seite 98 |
Eine sehr persönliche Erfahrungvon Petr Zelenka | Seite 99 |
Das KJT auf Gastreise in Südkoreavon Susanne Schmitt | Seite 99 |
Begenungvon Christiane Neudeck | Seite 101 |
Die Tübinger waren die ersten!von Sergej Medwedjew | Seite 102 |
Theaterphantasievon Christo Bojtschev | Seite 103 |
Von Tüb-nach so-und-so-ingen. Abstecher fahren | |
Ein Abstechervon Armin Breidenbach | Seite 112 |
Unterwegs passiertFünf Geschichtenvon Armin Breidenbach | Seite 115 |
Das werden wir nie vergessenvon Patrick Schnicke | Seite 117 |
Am liebsten Landsbergvon Janine Viguié | Seite 118 |
LTT – amtlichVier Briefevon Andreas Dobmeier, Franz Schwarzbauer, Jens Lampater und - Kulturbüro Schwäbisch Gmünd | Seite 119 |
Kleines rhythmisches Plädoyervon Bernhard Klasing | Seite 121 |
Publikumslobhudelei und Stadterkundung. Verzahnen und Vernetzen | |
Publikumslobhudeleivon Maria Viktoria Linke | Seite 136 |
Fitzcarraldo im SchwäbischenDie Kunst, Kunst da zu machen, wo Kunst nicht gemacht wirdvon Volker Schubert | Seite 138 |
Komische politische Projektevon Clemens Bechtel | Seite 140 |
Wertvolle Gesellenjahrevon Danny Exnar | Seite 141 |
Einfach anklopfenvon Insa Griesing | Seite 142 |
Megafon – Ein Briefwechselvon Sandra Hoffmann und Maria Viktoria Linke | Seite 143 |
Megafon – SchreibtischePostdadaistisch unterm Bahnhofsdachvon Tibor Schneider und Lucia Leidenfrost: | Seite 145 |
Blindschleiche im Tunnelbahnhofvon Boris Palmer | Seite 145 |
Weil Theater einfach schön istEine Rede vor dem Gemeinderatvon Simone Sterr | Seite 146 |
Spielzeiten 2005/06 – 2013/14 |
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