
Recherchen 58
Passagen
Reflexionen zum zeitgenössischen Theater
Herausgegeben von Torsten Israel
Paperback mit 260 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 9783940737199
Seit über 30 Jahren begleitet die griechische Kritikerin und Essayistin Helene Varopoulou mit ihren prägnanten und auch stilistisch anspruchsvollen Reflexionen die Entwicklung des zeitgenössischen europäischen Theaters. Sie zeichnet dessen Kontinuitäten, Brüche, Transformationen nach, beschreibt die Etablierung oder schnelle Ablösung neuer künstlerischer Strömungen, behandelt das wechselvolle Verhältnis zwischen dramatischem Text und szenischem Ereignis, analysiert die Bedeutung von Bildender Kunst und Neuen Medien für die Aufführungspraxis.
Besondere thematischen Schwerpunkte bilden dabei das Weiterwirken der antiken Tragödie (etwa bei Heiner Müller), die Auflösung traditioneller Gattungsgrenzen zwischen Schauspiel, Tanz, Musiktheater, Performance und Installation (etwa bei Romeo Castellucci), aber auch die unverminderte Aktualität des Werks von Bertold Brecht. "Passagen" präsentiert eine Auswahl ihrer wichtigsten Texte und neue, speziell für diesen Band entstandene Beiträge erstmals in deutscher Sprache.
Das vorliegende Buch bringt Einblicke in das internationale Theater der letzten Jahrzehnte, zieht aber keine Bilanz. Es zielt weder auf Vollständigkeit noch auf Ausgewogenheit. In ihm wird kein Kanon aufgestellt oder definitiv bestätigt. Theaterdonner wird nicht erzeugt, sondern gegebenenfalls diagnostiziert.
Was Helene Varopoulou und ihre Arbeit als Essayistin und Kritikerin auszeichnet, ist das sichere ästhetische Gespür und die kongeniale Beschreibung von – ästhetisch zum Teil weit auseinanderliegenden – Aufführungen und Regiehandschriften, die einen Kunstanspruch – und sei es durch dessen explizite Negation – nicht nur erheben, sondern auch einlösen. Und zwar unabhängig davon, ob dies durch das Anknüpfen an bereits angelegte und unter Umständen weit zurückverfolgbare Traditionslinien geschieht, oder im Sinne der inhaltlichen und formalen Innovation, des Bruchs, der Suche nach einem bisher ungekannten Theateridiom oder doch der Ergänzung und Weiterentwicklung bestehender Theatersprachen. Unmerklich geht sie in dieser Beziehung auf Distanz zur Position Heiner Müllers, mit dessen Werk sie sich, zumal als seine führende Übersetzerin ins Neugriechische, aber auch in Kommentaren und Essays immer wieder beschäftigt hat: Müllers Formulierung, nach der sich Kunst durch Neuheit legitimiere, erklärlich und hilfreich in ihrem historischen Kontext, greift ihr zu kurz.
Der Schwerpunkt der hier versammelten Texte liegt dennoch bei den Avantgarden der zurückliegenden drei bis vier Jahrzehnte, worunter das Werk jener Dramatiker und Regisseure bzw. jene künstlerischen Strömungen verstanden werden sollen, die in diesem Zeitraum – einschließlich der unmittelbaren Gegenwart – im Theater international wirksame Impulse zu setzen vermochten, oder die aktuell über das Potential dazu verfügen. Neben Künstlern wie Jerzy Grotowski, Giorgio Strehler oder Klaus Michael Grüber sowie profilierten Theatermachern aus Nordamerika und Japan, die Eingang in die Theatergeschichte gefunden haben, wendet die Autorin sich auch einer Reihe von in Deutschland weniger prominenten Regisseuren, Schauspielern und Ensembles zu, etwa aus Finnland, Indien, dem Iran, China und besonders Griechenland. In den Blick geraten Phänomene wie die Auflösung der Trennlinien zwischen bildender und darstellender Kunst, die Beeinflussung des Theaters durch die modernen Kommunikationstechnologien, die schwankende Bedeutung des geschriebenen Textes in der Inszenierungspraxis, die zeitweise oder ständige Hinwendung einiger Performerinnen und Regisseure zu einer intensiven, auch ethnologisch begründeten Körperarbeit, die Entwicklung mehrsprachiger Aufführungen als eine mögliche Reaktion auf den gar nicht mehr so neuen Prozess der Globalisierung oder die Wiederentdeckung des Chors im Schauspiel. Die Arbeit von einflussreichen zeitgenössischen Theatermachern vor allem der mittleren Generation, etwa Romeo Castellucci, Jan Fabre oder Theodoros Terzopoulos, aber auch von jüngeren wie Laurent Chétouane, erschließt sich dabei vor ihrem weit gespannten ästhetischen Horizont. Das Buch endet mit einer These, die den Diskurs über viele aktuelle szenische Ansätze auf ein neues Fundament zu stellen sucht.
Der vorliegende Band dokumentiert nicht zuletzt die jahrzehntelangen Bemühungen der Autorin um die Vermittlung der Vielfalt internationaler Theaterkunst für ein griechisches Publikum. Die Texte sind zumeist aus der unmittelbaren Konfrontation der Kritikerin mit den Aufführungen hervorgegangen und umspannen einen beachtlichen Zeitraum.
Grundlage der Ausgabe ist eine Auswahl aus Varopoulous im Athener Agra-Verlag erschienenem Buch »Das lebendige Theater« (2003), das seinerseits auf seit den frühen siebziger Jahren entstandene und zuerst zeitnah in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelwerken veröffentlichte Essays und Kritiken zurückgeht. Dazu kommen einige neuere Beiträge. Alle, auch die älteren Texte, erscheinen hier inhaltlich unverändert. Die in ihnen vorgetragenen Argumente bedurften keiner substantiellen Korrektur. Zudem ging es darum, ihnen nichts von ihrer Lebendigkeit, ihrem auch dokumentarischen Charakter zu nehmen, der sich beispielsweise in den zahlreichen in die Texte eingeflossenen Zitaten aus Gesprächen manifestiert, die Varopoulou mit etlichen der Regisseure führte.
Einige sprachliche Umstellungen und Reformulierungen tragen den besonderen Erfordernissen einer Buchausgabe Rechnung bzw. resultieren aus dem gemeinsamen Wunsch von Autorin, Übersetzer und Herausgeber nach einer möglichst leserfreundlichen deutschen Textgestalt. Die Anordnung des Materials um bestimmte thematische Achsen ergab sich zwanglos aus den von Varopoulou bei ihrer Arbeit selbst gesetzten inhaltlichen Schwerpunkten.
Das vorliegende Buch kann und will keine Bilanz des Theaters der letzten Jahrzehnte sein: Viele künstlerische Entwicklungen, deren Anfänge in diesen Zeitraum fallen, sind noch keineswegs abgeschlossen und ent-ziehen sich insofern einer apodiktischen Deutung. Auch dies zeigen Varopoulous Texte. Das Bild der jüngeren und zeitgenössischen Theaterlandschaft, das insgesamt dabei entsteht, gleicht folgerichtig weniger einem Tafelgemälde als der optischen Erfahrung beim Blick in ein Kaleidoskop. Charakteristisch dafür sind die Faszination, aber auch Irritation durch die Unberechenbarkeit und Unübersichtlichkeit der farblichen und geometrischen Eindrücke – und der zugleich ausgelöste Wunsch, möglichst alle denkbaren Muster und Schattierungen kennen zu lernen.
Berlin und Athen, Februar 2009
Torsten Israel
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Editorialvon Torsten Israel | Seite 7 |
Die Herausforderung des antiken Theaters | Seite 10 |
DIE ORESTIE von Peter Stein (1980)von Helene Varopoulou | Seite 18 |
Die ORESTIE der Frauenvon Helene Varopoulou | Seite 23 |
Ein politischer AJAXvon Helene Varopoulou | Seite 24 |
Das Heute im Gesternvon Helene Varopoulou | Seite 26 |
Der Blick und das Sehen | Seite 31 |
Auf dem Weg zu einem neuen Bewusstsein der Zeit und des Blicksvon Helene Varopoulou | |
Zeitraum, Ort und Video | Seite 35 |
Das Theater als Ausnahmevon Helene Varopoulou | Seite 35 |
Der Zuschauer als Künstler der Zukunftvon Helene Varopoulou | Seite 38 |
Das Verschwinden von Regisseur und Protagonist | Seite 45 |
Die Götterdämmerung der großen Regisseurevon Helene Varopoulou | Seite 45 |
Postmoderne Regisseure und klassische Textevon Helene Varopoulou | Seite 47 |
Das Ende der Protagonistenvon Helene Varopoulou | Seite 50 |
Technologie | Seite 56 |
Zwischen Authentizität und Mündlichkeitvon Helene Varopoulou | |
KÖRPER | Seite 68 |
Der extreme Körper - Phänomenologie des Hässlichenvon Helene Varopoulou | Seite 68 |
Das Trauma des Körpersvon Helene Varopoulou | Seite 69 |
Die Frauen der Performancevon Helene Varopoulou | Seite 73 |
Die Hervorhebung des Abstoßenden im Theatervon Helene Varopoulou | Seite 75 |
Das Theater des Theodoros Terzopoulosvon Helene Varopoulou | Seite 77 |
Der Körper der Geschichtevon Helene Varopoulou | Seite 83 |
Rituale | Seite 86 |
Die anthropologische Dimension des Theatersvon Helene Varopoulou | Seite 86 |
Das Mahl als Performancevon Helene Varopoulou | Seite 91 |
Chor | Seite 94 |
Das Beispiel Schleefvon Helene Varopoulou | Seite 97 |
Chor und Tragödievon Helene Varopoulou | Seite 99 |
Klang, Laut, Sprachen | Seite 102 |
De la musique avant tout chosevon Helene Varopoulou | Seite 102 |
Vassiliev und anderevon Helene Varopoulou | Seite 106 |
Improvisationen | Seite 111 |
Die ästhetik der Improvisationvon Helene Varopoulou | |
Der Theatertext als Sprachmonument | Seite 114 |
Die Kunst Giorgio Strehlersvon Helene Varopoulou | Seite 114 |
Theatergewittervon Helene Varopoulou | Seite 121 |
Der kathartische Auszug:Ingmar Bergmann als Theaterregisseurvon Helene Varopoulou | Seite 123 |
POLITIK | Seite 128 |
Der Taumel des Politischen oder das Gespenst der Politikvon Helene Varopoulou | Seite 128 |
Mai '68 oder Die Politik auf der Bühnevon Helene Varopoulou | Seite 128 |
Vom politischen Theater zum Theater der Politikvon Helene Varopoulou | Seite 131 |
Brecht | Seite 135 |
ARTURO UI oder Die Theaterästhetik des Faschismusvon Helene Varopoulou | Seite 135 |
Die Ästhetik des Spiels und Brechtvon Helene Varopoulou | Seite 138 |
FATZER oder die Theaterutopievon Helene Varopoulou | Seite 140 |
Glücksjohnny:Erzählung, Jazz, Performancevon Helene Varopoulou | Seite 144 |
Michail Marmarinos' BRECHT-MASCHINEvon Helene Varopoulou | Seite 146 |
Narrationen | Seite 148 |
Der ketzerische Erzähler Dario Fovon Helene Varopoulou | Seite 148 |
Das heilige Taziehvon Helene Varopoulou | Seite 151 |
Russische Erzählungenvon Helene Varopoulou | Seite 152 |
Sprache | Seite 156 |
Beckett:Das Schauspiel als Artikulationvon Helene Varopoulou | Seite 156 |
Platonische Dialoge auf der Bühnevon Helene Varopoulou | Seite 161 |
Stelen, sprechendvon Helene Varopoulou | Seite 163 |
Schauspieler und Schauspieler | Seite 167 |
Mit dem Schauspieler als Zentrumvon Helene Varopoulou | Seite 167 |
Peter Brook:Der Spurensucher der stereokopischen Wahrheitvon Helene Varopoulou | Seite 169 |
Der Schauspieler bei Antoine Vitezvon Helene Varopoulou | Seite 174 |
Die russische Lehre in Religiositätvon Helene Varopoulou | Seite 177 |
Epischer Schauspieler und Performervon Helene Varopoulou | Seite 179 |
TANZ | Seite 183 |
Ich tanze, also bin ich:Pina Bausch und ihr Ensemblevon Helene Varopoulou | Seite 183 |
Ein Triptychon von Dimitris Papaioannouvon Helene Varopoulou | Seite 189 |
Saburo Teshigawara:Tanz in der Luftvon Helene Varopoulou | Seite 190 |
Musiktheater | Seite 193 |
Heiner Goebbels szenische Kompositionenvon Helene Varopoulou | Seite 193 |
Die Vokalwerke von Meredith Monkvon Helene Varopoulou | Seite 197 |
Inszenierte Räume - Ein Panorama | Seite 200 |
Inszenierungen der Landschaftvon Helene Varopoulou | |
Bilder und Figuren | Seite 221 |
Eine polnische Traditionvon Helene Varopoulou | Seite 221 |
Ein Theater der Malervon Helene Varopoulou | Seite 223 |
Die Rückkehr des Odysseusvon Helene Varopoulou | Seite 225 |
Das Kinderzimmervon Helene Varopoulou | Seite 227 |
Das Theater der Bilder und der Malerei in New Yorkvon Helene Varopoulou | Seite 228 |
die Welt der Tiere auf der Bühnevon Helene Varopoulou | Seite 232 |
Antike, noch einmal: Modelle des Interkulturellen | Seite 237 |
Atridenvon Helene Varopoulou | Seite 237 |
IPHIGENIEvon Helene Varopoulou | Seite 240 |
Suzuki und die Tragödievon Helene Varopoulou | Seite 241 |
Doppelte Traditionenvon Helene Varopoulou | Seite 245 |
Epilog | Seite 251 |
Gesellschaftliche Wirksamkeit als Maßstab des experimentellen Charakters künstlerischer Arbeitvon Helene Varopoulou | |
Anhang | Seite 254 |
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Torsten Israel
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Attis-Theater: „Amor“ nach Texten von Thanasis Alevras. Regie, Bühne und Licht Theodoros Terzopoulos, Kostüme LOUKIA
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Der griechische Regisseur Theodoros Terzopoulos über seine Schauspielmethode im Gespräch mit Torsten Israel
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Badisches Staatstheater: „Schatten (Eurydike sagt)“ (DEA) von Elfriede Jelinek. Regie Jan Philipp Gloger, Ausstattung Marie Roth
Editorial
Bibliographie
Beiträge von Torsten Israel finden Sie in folgenden Publikationen:

Heft 03/2017
Alles außer gewöhnlich
Die Schauspielerin Jana Schulz

Theodoros Terzopoulos
Die Rückkehr des Dionysos
Mit einem Vorwort von Erika Fischer-Lichte

Heft 05/2015
Song of Smoke
Der Regisseur und Musiker Thom Luz
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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