
Recherchen 70
Reality Strikes Back II
Tod der Repräsentation
Herausgegeben von Frank M. Raddatz und Kathrin Tiedemann
Paperback mit 200 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-940737-51-9, Originalpreis: € 14,00
Dieses Buch ist leider vergriffen
Der Hunger nach Realität in den darstellenden Künsten hält an. Die aktuelle Inszenierungspraxis gegen die Illusionsästhetik des Theaters sowie die Forderung nach Authentizität bringen immer neue Spielarten des Dokumentarischen oder der „Real(itäts)effekte" (Roland Barthes) auf die Bühne. In der Gesellschaft des Spektakels und einer Welt der Virtualität wird der Repräsentationscharakter des Spiels grundsätzlich in Frage gestellt. Im Kampf gegen die Macht der Bilder eröffnet das Theater neue Spielräume einer differenzierten Wahrnehmung und Darstellung komplexer Realitätsverhältnisse.
„Reality strikes Back II" - fragt nun: Wie lässt sich eine auch kritische Darstellung dieser „neuen Realitäten" unter dem Vorzeichen der Globalisierung mit einer radikalen Infragestellung der Ästhetik der „Repräsentation" verbinden? Der Band dokumentiert ein Symposium am Forum Freies Theater in Düsseldorf und wurde um weitere Beiträge ergänzt.
Mit Beiträgen von: Etel Adnan, Friedrich Kittler, Rabih Mroué, Frank Raddatz, Klaus Theweleit, Helena Waldmann, Samuel Weber, Stefan Winter, Beate West-Leuer u. a.
All artists are alike. They dream of doing
something that’s more social, more
collaborative, more real than art.
Dan Graham
Wir versuchen mit der Realität Schritt zu halten. Seit dem Erscheinen von REALITY STRIKES BACK. TAGE VOR DEM BILDERSTURM sind drei Jahre vergangen, und der Einbruch der Wirklichkeit in den Bühnenraum ist nach wie vor eines der beherrschenden Themen in den aktuellen Theaterdebatten. Zeit nachzulegen.
Die erste Dekade des 21. Jahrhunderts geht zu Ende. Stand am Beginn des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts der Angriff auf das World Trade Center in New York, so wird sein Ende von der globalen Finanzkrise geprägt. 2006, am Beginn unserer REALITY-Recherche hatten wir unseren Blick über den Atlantik gerichtet, um zu begreifen, wie sich die neoliberalen Spielregeln bis in die mikropolitischen Verhältnisse des Alltags ausbreiten und unser aktuelles Verständnis von Realität und Kunst prägen. Inzwischen liegt das Ende der Bush-Ära hinter uns, aber sie hinterlässt eine Situation, in der sich der Kapitalismus als einzig praktikable Form der Politik und Ökonomie soweit durchgesetzt hat, dass eine Alternative nicht einmal mehr vorstellbar scheint. Hat Slavoj Žižek Recht, wenn er behauptet, dass es leichter sei, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus? Sollte er damit Recht haben, wäre dies dann nicht auch das Ende der Vorstellung in einem umfassenden Sinne – also auch das Ende der Kunst, wie wir sie kannten? Der Tod der Repräsentation?
Was der britische Kulturkritiker Mark Fisher als »Capitalist Realism«* bezeichnet, hat nichts mehr vom Charme des Kapitalistischen Realismus, wie ihn Gerhard Richter und Konrad Lueg 1963 in einem Düsseldorfer Möbelhaus als Gegenentwurf zum Sozialistischen Realismus ironisch in Anschlag brachten, um den westdeutschen »realen« Kapitalismus der 1950er- und 1960er-Jahre zu kritisieren.
Womit wir es heute zu tun haben, konstatiert Fisher, ist ein kapitalistischer Realismus im Sinne einer allumfassenden Erschöpfung sowie einer kulturellen und politischen Sterilität. Erstmals erleben wir einen auf Wachstum angelegten Kapitalismus, der funktionieren muss, ohne expandieren zu können, indem er sich ein Außen aneignen kann. Kapitalismus ist uns zu einer zweiten Natur geworden und das macht ihn als Ideologie so überaus erfolgreich. Waren wir bereit, ihn als das kleinere Übel zu akzeptieren, erweist er sich zunehmend als äußerst disfunktional. Fisher benennt drei zentrale Problemfelder: den Klimawandel und in seiner Folge die Zerstörung der Umwelt als Ressource und Lebensraum, die Behandlung von seelischen Krankheiten, insbesondere die erschreckende Zunahme von Depressionen als »naturgegeben« sowie die zunehmende Bürokratisierung.
Diese Problemlage gehört zu den verdrängten Realitäten, die existentiell zurückschlagen. Wie sich Theater zu diesen sozialen und politischen Realitäten ins Verhältnis setzen kann und will, ist eine offene Frage. Seien wir also unrealistisch und versuchen uns das Ende der Vorstellung vorzustellen.
Unter dem Motto »Ende der Vorstellung?« fragte das FFT Düsseldorf im September 2008 nach aktuellen Positionen, die die spezifischen Möglichkeiten des Theaters herausfordern. Sich im Schutze der Dunkelheit des Zuschauerraumes den Blick auf die Welt verstellen lassen oder eine andere Wirklichkeit vorstellen? Wie kann sich das Theater zwischen Bilderflut und Bilderverbot als Denk- und Imaginationsraum behaupten? Zwei höchst unterschiedliche Inszenierungen bildeten zunächst den Ausgangspunkt für die Fortsetzung der Debatte.
Die Performance von Rabih Mroué und Lina Saneh WHO’S AFRAID OF REPRESENTATION?, die ein komplexes Spiel mit Bild und Abbild, körperlicher Präsenz, Gewalt und Tod entwickelt, um den Blick auf den Zusammenhang von Ethik und Ästhetik zu lenken. Der Schauspieler, Autor und Regisseur Rabih Mroué ist bekannt für scharfe, selbstironische Analysen der libanesischen Gesellschaft. Seit 1990 schreibt und inszeniert er eigene Stücke, die Kunst, Alltag und Politik in semifiktionalen Szenarien miteinander in Dialog setzen. In WHO’S AFRAID OF REPRESENTATION? agierten Mroué und seine Partnerin Lina Saneh in einer Bühneninstallation, die auf verstörende Weise Beispiele radikaler Grenzüberschreitung aus der Geschichte der Performance Art auf Ereignisse aus dem Bürgerkrieg im Libanon bezieht.
Die Arbeit von Frank Raddatz HYSTERIA ODER BRECHTS LAB unternahm eine szenische Auseinandersetzung mit Bertolt Brechts Theorie des epischen Theaters in dem Versuch, die Bühne von einer Illusionsmaschine in einen Ort der Wirklichkeits-Erkenntnis zu verwandeln. Die Bühne selbst wurde zum Labor, in dem sich zwei Schauspieler den unterschiedlichen Möglichkeiten der Verwandlung in eine Rolle beziehungsweise deren distanzierter Darstellung aussetzten – demgegenüber waren die Zuschauer aufgefordert, an ihren eigenen Reaktionen zu beobachten, inwieweit die unterschiedlichen Spielweisen auf sie wirken: Kommt es zu einer mitfühlenden Identifikation mit den Bühnenfiguren oder bleibt der Betrachter bei sich und nimmt das Bühnengeschehen kühl und distanziert wahr? Neben dem theaterästhetischen Diskurs wurde die »wahre« Geschichte eines Mannes dargestellt, dessen Wirklichkeits-Verdrängung so weit geht, dass er zur Aufrechterhaltung der von ihm produzierten Illusion – er hatte ein komplexes Gebäude aus Täuschung und Lüge über seine wahre Identität aufgebaut – zum Serienmörder wird.
Unter dem Motto REALITY STRIKES BACK II – TOD DER REPRÄSENTATION fand ein begleitendes Symposium statt, das sich über das Thema Repräsentation dem aktuellen Verhältnis der darstellenden Künste zur Realität annäherte. Die in diesem Kontext gehaltenen Vorträge, zwei Interviews sowie ein Künstlergespräch bilden die Grundlage der vorliegenden Publikation. Ergänzt wurden sie um weitere Beiträge, die ebenfalls im engen Zusammenhang mit dem Theaterprogramm am FFT stehen und sich auf die Arbeiten von Helena Waldmann, Claudia Bosse und Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) beziehen, beziehungsweise einen Überblick über weitere Positionen aktueller postdramatischer und semidokumentarischer Theaterpraxis geben.
Das erste Kapitel versammelt drei Beiträge, die sich mit den philosophischen, kulturellen und medientheoretischen Grundlagen der Repräsentation beschäftigen. Gemeinsam machen sie den Zusammenhang zwischen historischen Umbruchzeiten und den sich in ihnen neu strukturierenden Repräsentationsverhältnissen deutlich. Friedrich Kittler beschreibt im Gespräch, wie die medientechnologische Trennung der Sinne seit rund 200 Jahren die menschliche Wahrnehmung prägt und wie der Widerstreit zwischen medientechnisch Realem und der Kraft zur Imagination in den Künsten seine Produktivität entfaltet. Stefan Winter setzt bei den neuzeitlichen Erfindungen der Zentralperspektive in der Malerei und Architektur des 15. Jahrhunderts an. Das menschliche Subjekt wird zum Repräsentanten der göttlichen Schöpfung – bis zur Auflösung und Dynamisierung dieser Repräsentationsverhältnisse in der klassischen beziehungsweise medialen Moderne.
Samuel Weber schließlich folgt der theologischen Spur der Geschichte des Begriffs und vollzieht die von Benjamin anhand des barocken Trauerspiels entwickelte Idee eines allegorischen Theaters als Antwort der Moderne auf die durch die Reformation entleerte Welt nach.
Klaus Theweleit untersucht die Wort-Bild-Verhältnisse in den späten Filmen Godards, NOTRE MUSIQUE (2004) und ÉLOGE D’AMOUR (2001), die vor dem Hintergrund des Kriegs in Bosnien in den 1990er-Jahren um die Wahrhaftigkeit einer Filmsprache im Angesicht der Katastrophen des 20. Jahrhunderts ringen und gleichzeitig Demonstrationen eines unperspektivischen Sehens für das 21. Jahrhundert sind.
Das dritte Kapitel vollzieht einen Perspektivwechsel, indem es das Problem der Repräsentation in den Kontext einer globalisierten Kultur stellt. Im Gespräch mit der Philosophin, Schriftstellerin und Malerin Etel Adnan werden die Folgen des Kolonialismus für die Kunst und Kultur in der arabischen Welt, insbesondere die Situation im durch die Auswirkungen des Bürgerkriegs geprägten Libanon, erörtert.
Ulrike Haß analysiert Elfriede Jelineks Stück über den dritten Golfkrieg, BAMBILAND, als eine Lektüre heutiger Kriegsberichterstattung über den Krieg im Medienzeitalter, der die »embedded« Beteiligung aller vor den heimischen Bildschirmen auf der Folie eines westlich-christlichen Überlegenheitsgefühls als eine spezifische Form des Terrors erfahrbar macht.
Das Künstlergespräch im Rahmen des Symposiums REALITY STRIKES BACK II erörtert individuelle ästhetische Strategien der beteiligten Künstler im Umgang mit Fragen der Repräsentation. Ergänzt wird das Kapitel durch eine Fotoreportage von Stefan Kaegi aus Kairo, die während seiner Recherche zu RADIO MUEZZIN entstanden ist.
Im vierten und letzten Kapitel betrachtet Beate West-Leuer den »Tod der Repräsentation« aus psychoanalytischer Sicht und untersucht die Phänomene Hysterie und Hypnose in Film und Theater exemplarisch an Woody Allens IM BANNE DES JADESKORPIONS und an Frank Raddatz’ HYSTERIA ODER BRECHTS LAB. Katharina Keim stellt die aktuellen Spielarten semi-dokumentarischer Inszenierungspraxis dar und konstatiert die Aufhebung der Grenzen zwischen Authentizität und Inszenierung, während Frank Raddatz das Theater der Authentizität einer grundsätzlichen Kritik unterzieht und ihm vorhält, dass es, um der Falle der Repräsentation zu entkommen, seinen Anspruch auf ästhetische Widerständigkeit aufgegeben hat und sich mit poetischer Harmlosigkeit zufrieden gibt.
Mein Dank gilt allen beteiligten Künstlern sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Symposiums und den Autoren, die zu diesem Recherchen-Band beigetragen haben, insbesondere Frank Raddatz für die gemeinsame Planung und Durchführung des Symposiums, Etel Adnan für ihre Gastfreundschaft in Sausalito und Christoph Grothaus, der mich auf dieser Reise begleitet und das Video-Interview mit Etel Adnan realisiert hat, Iskender Kökçe, der das Video-Interview mit Friedrich Kittler in Berlin realisiert hat, Sharlene Anders für die Transkription und Übersetzung des Künstlergesprächs aus dem Englischen, allen FFT-Mitarbeitern, die bei der Transkription der Interviews geholfen haben und Jacob Wren für die guten Anregungen und Gespräche. Besonderer Dank gilt dem Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf für die Förderung des Symposiums.
Kathrin Tiedemann
Düsseldorf, Juli 2010
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I. Umbruch-Zeiten | |
Friedrich Kittler im Gespräch: Der Traum von der Sinneinheit des LeibesRepräsentation und Vorstellung an der Schnittstelle zwischen Kunst und Medientechnologievon Frank M. Raddatz und Friedrich Kittler | Seite 14 |
Ruin der RepräsentationZur Geschichte der Krise der Repräsentation – und ihren Chancenvon Stefan Winter | Seite 24 |
Maskierungen der entleerten WeltEine begriffsgeschichtliche Lektüre zum »Tod der Repräsentation«von Samuel Weber | Seite 32 |
II. Wort-Bild-Verhältnisse | Seite 44 |
Katastrophen und ErinnerungReality-Fiction in den späten Filmen von Jean-Luc Godardvon Klaus Theweleit | |
III. Perspektivenwechsel | |
Etel Adnan im Gespräch: Die Angst vor den Mächten der GleichheitOder ein Versuch zu verstehen, wie die Uneinheitlichkeit der Kulturen in der arabischen Welt diese Region zu einem der wichtigsten Hot Spots globaler Zivilisation machtvon Kathrin Tiedemann und Etel Adnan | Seite 68 |
Mediale HistoriografienElfriede Jelineks »Bambiland«von Ulrike Haß | Seite 74 |
Rabih Mroué, Lina Saneh, Helena Waldmann, Frank Raddatz und Kathrin Tiedemann (Moderation) im Gespräch: Keine Angst vor der Repräsentation?Im Fadenkreuz von Artaud und Brecht, Body Art und Zuschauerpartizipationvon Frank M. Raddatz, Kathrin Tiedemann, Helena Waldmann, Rabih Mroué und Lina Saneh | Seite 90 |
Reise ins Innere der MoscheeTagebuch aus dem Probenprozess zu Radio Muezzinvon Stefan Kaegi | Seite 100 |
IV. Making-Of | |
Was ist einer? Was einer nicht?Hysterie und Narzissmus im Film und auf der Bühnevon Beate West-Leuer | Seite 110 |
Der Einbruch der Realität ins SpielZur Synthese von Faktizität und Fiktionalität im zeitgenössischen semi-dokumentarischen Theater und den Kulturwissenschaftenvon Katharina Keim | Seite 127 |
Authentische Rezepte für ein unvergessliches MorgenDer Wunsch nach dem Echten in Zeiten globalen Wandelsvon Frank M. Raddatz | Seite 139 |
Anhang | Seite 163 |
Autorinnen und Autoren |
Reality Strikes Back II
Tod der Repräsentation
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