
Recherchen 4
Rot gleich Braun
Nationalsozialismus und Stalinismus bei Brecht und Zeitgenossen
Herausgegeben von Therese Hörnigk und Alexander Stephan
Paperback mit 258 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-934344-01-3
Der Band publiziert exklusiv die Vorträge und Diskussionen der Brecht-Tage 2000, die unter dem Titel "Rot = Braun? Nationalsozialismus und Stalinismus bei Brecht und Zeitgenossen" im Literaturforum im Brecht-Haus Berlin stattfanden. Das provokante Motto der Konferenz diente als Anregung, sich dem Werk von Brecht wieder verstärkt in seiner politisch-geschichtlichen Dimension zu widmen, was notwendigerweise den Versuch einer differenzierten historischen Bilanzierung des 20. Jahrhundert im besonderen Kontext der beiden totalitären Systeme einschließt.
Therese Hörnigk, Alexander Stephan
Das 20. Jahrhundert wird, trotz aller Fortschritte, die es gebracht hat, in vielen Rückblicken sehr kritisch betrachtet. »Ein Jahrhundert der Verachtung« sei es gewesen, war auf einem PEN- Kongress in Warschau zu hören, eine »teuflische«, weil »von den totalitären Regimen Nationalsozialismus und Kommunismus« geprägte Ära. Wissenschaftler schreiben zurückhaltender von einem »Zeitalter der Ideologien«. In Frankreich listet ein Schwarzbuch die Opfer von Bolschewismus und Stalinismus auf - und entfacht so neuen Streit um die alte Gleichung Rot = Braun. Historiker im wiedervereinigten Deutschland greifen auf Formeln der Totalitarismusdiskussion zurück, wenn sie Vergleiche zwischen der DDR und dem Dritten Reich ziehen. Kulturschaffende laden zu Auseinandersetzungen ein, indem sie pauschal von >Dichtern im Dienst< sprechen oder in Ausstellungen die Staatskunst verschiedener Epochen und Systeme kommentarlos nebeneinander hängen.
Die Diskussion um die Gleichsetzung von Rot und Braun und die mit ihr eng verbundene Totalitarismustheorie geht bis in die zwanziger und dreißiger Jahre zurück, als zuerst in den USA und dann unter deutschen Hitlerflüchtlingen im Exil Begriffe wie »Red Huns« bzw. »Brown Bolshevism« und »Communazi« geprägt wurden. Sie erreichte einen Höhepunkt während des Kalten Krieges und erfährt, nach einer kurzen Unterbrechung nach 1968, eine zweite, internationale Renaissance in der Zeit seit dem Zusammenbruch des Kommunismus - jetzt im Wettstreit mit der Holocaust-Forschung, auf die in Deutschland u. a. der sogenannte Historikerstreit und Daniel Goldhagens Buch von Hitlers willigen Vollstreckern die Aufmerksamkeit gelenkt haben.
Während es relativ leicht ist, die Chronologie der Totalitarismusdebatten aufzuzeichnen, lässt sich nur schwer nachvollziehen, in welchem Maße und in welcher Form das Jahrhundert der Ideologien auf die Produzenten und die Produktion von Literatur Einfluss genommen hat. Brechts Anrede an die Nachgeborenen, dass es ein Verbrechen sei, angesichts der ihn umgebenden Untaten Gedichte über Bäume zu schreiben, wäre hier ebenso zu nennen wie Adornos berühmte Formel »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch«. Nicht wenige Autoren aus Brechts Generation suchten angesichts des von ihnen erfahrenen Zerfalls der Werte mehr oder weniger radikal bei einer der beiden großen Ideologien des vergangenen Jahrhunderts Halt, dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus. Andere verschrieben sich einer Weltanschauung, nur um ihr dann aus welchen Gründen auch immer, enttäuscht als Renegaten den Rücken zu kehren. Wieder andere sagten allen Ideologien ab und verharrten in der Klage über das Verschwinden des Individuums in der Masse und den Verlust der Utopie, die am Anfang von Brechts Jahrhundert in vagen Konstruktionen von einem »neuen Menschen« und einer »neuen Welt« beschworen wurden.
Bertolt Brecht steht, freiwillig oder nicht, wie kaum ein anderer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts inmitten des Getümmels dieser Auseinandersetzungen. Wiederholt verfasst der Stücke- und Gedichteschreiber Lobeshymnen auf den Kommunismus, ohne der Partei der Kommunisten beizutreten. Wie andere Zeitgenossen geht Brecht davon aus, dass der Terror des >Anstreichers< am ehesten durch die Gewalt von dessen Gegenspieler im Kreml zu besiegen war. Von den Utopien der Moderne und den künstlerischen Experimenten der Avantgarde der zwanziger Jahre, der nachgesagt wird, sie habe sich den >totalitären< Systemen angedient, die sie dann zugleich genutzt und verdammt hätten, versucht er wenigstens einen Teil durch die heißen und kalten Kriege seiner Zeit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu retten. Weil Brecht zwar den Nationalsozialismus kritisch untersucht, nicht aber dessen extremsten Auswuchs, den Holocaust, geraten seine Schriften in die Schusslinie jener, die heute erneut über einen offenen oder verkappten Antisemitismus der Linken nachdenken. Im Zuge der jüngsten historischen Wende werden Brechts Texte teilweise radikal uminterpretiert und/oder entpolitisiert.
Es bliebe allerdings zu fragen, ob Entstehen und Bestehen von Brechts Werken überhaupt mit Kommunismus und Antifaschismus in Verbindung gebracht werden müssen.
Der vorliegende Band fasst die an fünf Abenden vor einem interessierten Publikum gehaltenen Vorträge zu dem ausdrücklich mit einem Fragezeichen versehenen Thema der international besetzten Brecht-Tage 2000 »Rot = Braun? Nationalsozialismus und Stalinismus bei Brecht und Zeitgenossen« in drei thematisch gegliederte Kapitel zusammen. Dazu werden ausgewählte Teile der im Austausch mit dem Publikum geführten Diskussion dokumentiert.
Das erste Kapitel gruppiert sich um das Thema »Bertolt Brecht und die Zuschreibungen des Totalitären«. Der Historiker Konrad H. Jarausch (University of Chapel Hill, North Carolina, USA und Direktor des Zentrums für zeithistorische Studien, Potsdam), geht das vorgegebene Thema ohne Fragezeichen vom Standort historischer Vollzüge an, indem er Faschismus und Stalinismus bzw. Sozialismus in der DDR ideologisch und strukturell auf einer Ebene diskutiert.
Gerhard Scheit, Kultursoziologe aus Wien, verweist dagegen in seinem Beitrag auf die Einseitigkeit im allgemeinen Gebrauch des Totalitarismusbegriffs, wenn - wie selbst auch bei Hannah Arendt oder Max Horkheimer - nicht gleichzeitig von der Totalität der dauerhaften Krise des Kapitalismus gesprochen wird.
Der zur Zeit in Brasilien lehrende Soziologe Manfred Lauermann plädiert, ebenfalls dezidiert mit dem Blick auf Bertolt Brecht, für einen differenzierten, vor allem auch historisch fundierten Gebrauch des Totalitarismusbegriffs, indem er auf frühe Totalitarismustheoretiker wie Emil Lederer, Franz Leopold oder auf das Modell Carl Joachim Friedrichs sowie die Positionen des emigrierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung zurückgreift.
Das häufig zitierte Diktum Max Horkheimers, wonach vom Faschismus schweigen soll, wer über den Kapitalismus nicht reden will, wird in der nachfolgenden, von Sebastian Kleinschmidt (Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form) geleiteten Diskussion immer wieder aufgerufen und in Beziehung gesetzt zu den konkreten Lebens- und Überlebensbedingungen der linken Avantgarde in der Weimarer Republik und im faschistischen Deutschland bzw. in der stalinistischen Sowjetunion. Als Diskussionshorizont sind dabei die mehrfach benannten strukturellen Ähnlichkeiten und Unterschiede totalitärer Systeme ständig präsent.
Um Brechts Positionen gegenüber den Faschismustheorien geht es in den im zweiten Kapitel zusammengestellten Beiträgen. Mit der Präsentation neuen Materials belegt die Berliner Literaturhistorikerin Silvia Schlenstedt in ihrem Aufsatz einen Wunsch Brechts aus dem Jahr 1945, wonach er das Moskauer Jiddische Theater mit Solomon Michoels' Inszenierung von Die Rundköpfe und die Spitzköpfe nach Berlin holen wollte. Die Tatsache, dass sich Brecht nicht dezidiert zu Auschwitz geäußert habe, erklärt sie mit seinem primären Interesse für die Mechanismen von Gewalt und Verführbarkeit des Volkes. Die Exzesse von Gewalt und Vernichtung und die Barbarei des Nationalsozialismus waren für den Exilanten Brecht mit dem Kampf gegen den Faschismus beendet.
Detlev Schöttker, Literatur- und Medienwissenschaftler (Gastprofessor an der TU Dresden) behandelt in seinem Beitrag Brechts selektive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Faschismustheorien als eine Leerstelle in dessen Werk, in dem sich wenige Bemerkungen zum Genozid auffinden lassen.
Manfred Voigts, Lehrbeauftragter am Institut für Religionswissenschaft an der Universität Potsdam, befasst sich in seinem Referat ebenfalls mit der Nicht-Thematisierung von Auschwitz bei Brecht und begründet diesen Umstand mit der Tatsache, dass die jüdische Problematik für den Sozialisten Brecht immer eine abgeleitete Frage geblieben sei.
Jost Hermand (University of Wisconsin, USA) interpretiert Hitler-Parodien bei Brecht und Chaplin mit dem Verweis auf Chaplins »Großen Diktator« und Brechts »Arturo Ui« in Hinblick auf vordergründiges Interesse an der Geschichte einer skrupellos agierenden Marktwirtschaft, als deren Exponenten er Hitler benennt. Vor dem Hintergrund der amerikanischen Appeasementpolitik in den dreißiger Jahren und den ihr entsprechenden Interessen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie erschienen in den USA Hitler-Satiren ebenso unerwünscht wie zu Zeiten des Hitler-Stalin-Paktes in der Sowjetunion
Ausgehend von der 1943 im Arbeitsjournal zitierten Bemerkung Brechts anlässlich der Lektüre von Boris Souvarines Stalin-Biographie: »Im Faschismus erblickt der Sozialismus sein verzerrtes Spiegelbild. Mit keiner seiner Tugenden, aber mit allen seinen Lastern« setzt sich der Brecht-Forscher Klaus Völker ( Rektor der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«) in seinem Beitrag mit der Frage auseinander, wieviel der »antistalinistische Stalinist« Brecht, nach Ernst Bloch der »Lenin der Schaubühne«, von den Verbrechen Stalins tatsächlich gewusst haben kann und in wie weit dieses Bewusstsein für das Werk des Kunstproduzenten, Autors und Dramatikers Brecht tatsächliche Bedeutung hat
In der von Wolfgang Benz (Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin) geleiteten Diskussion wird darauf verwiesen, dass das Schweigen über Auschwitz keineswegs eine Besonderheit Brechts gewesen sei, sondern in der Bundesrepublik, ebenso wie in den USA erst in den 60er Jahren als Diskursgegenstand Relevanz bekommen habe
Das dritte Kapitel fasst unterschiedliche Beiträge zum Thema »Brecht im Spannungsfeld zwischen Avantgarde und Staatskunst zusammen«. So beschäftigt sich der Oldenburger Slawist Rainer Grübel werkorientiert mit der Ästhetik des Opfers bei Brecht, die er in Beziehung setzt zur Ästhetik der Opfer in der sowjetischen Literatur der 20er und 30er Jahre. Dabei verfolgt er die Wandlungen des bei Brecht aus der Bibel und der Antike verwendeten Opfer-Motivs
Der amerikanische Exilforscher David Pike (University of North Carolina) markiert, auf eigene Archivforschungen zurückgreifend, mit seinem Beitrag Brechts Beziehung zum Stalinismus und verweist auf die unterschiedlichsten Positionen, die Brecht zum Faschismus und zum Stalinismus eingenommen habe
Dem Verhältnis von Brecht und Stalin widmet auch der Musikwissenschaftler Gerd Rienäcker seinen Beitrag, indem er dem Brecht'schen Bild von Stalin als dem »verdienten Mörder des Volkes« nachgeht, entstanden aus der Hoffnung auf die Sowjetunion als einziger Macht, von der ein Sieg über den Faschismus erhofft wurde
Der Kultur-und Musikwissenschaftler Jürgen Schebera analysiert und demonstriert an Beispielen die Adaption vieler Lieder vorzugsweise aus der Arbeitermusikbewegung durch die Faschisten, indem er nicht nur auf funktionale, sondern auch auf ästhetische Differenzen verweist
Der Exilforscher Michael Rohrwasser benennt mit dem Titel seines Aufsatzes »Brecht und die Renegaten« seinen Ansatz, wenn er Brecht ins Verhältnis zu den die Verbrechen Stalins frühzeitig erkennenden und Schlussfolgerungen ziehenden Zeitgenossen des Augsburgers setzt. Er verweist auf den Unterschied des Realpolitikers und Politstrategen Brecht zum Kunstproduzenten Brecht, dem es mit seinem Schweigen zu den Stalin'schen Prozessen um strategische Absicherung eigener ästhetischer Positionen gegangen sei
Die von Alexander Stephan (Ohio State University) und Simone Barck (Zentrum für zeithistorische Studien, Potsdam) geleitete Diskussion verläuft kontrovers und dreht sich im wesentlichen um Brechts Verhältnis zum Stalinismus und zu den Renegaten. Dabei geht es den Diskutanten nicht darum, Brechts Haltungen zu rechtfertigen oder zu brandmarken, sondern Leerstellen in den Wahrnehmungen des Dichters und mögliche Gründe für Ausblendungen aufzuzeigen. Zum Abschluss der Debatte über Brecht vor dem Hintergrund der Formel »Rot = Braun?« rückt noch einmal unter anderem die Frage nach der besonderen »Verführbarkeit« von Intellektuellen durch massen- und machtgestützte Ideologien ins Zentrum des Interesses. Sie schließt die Positionen von Parteigängern, Mitläufern und Renegaten der antagonistischen Systeme ebenso ein, wie sie den Standpunkten unterschiedlicher Interpreten Platz einräumt.
Berlin, 5. Mai 2000
Kapitel | Seite |
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1. Bertolt Brecht und die Zuschreibungen des Totalitären | |
In finsteren Zeiten - alles eins?Die Zwiespältigkeit des Totalitarismusbegriffsvon Gerhard Scheit | Seite 13 |
Die Versuchung des Totalitären.Intellektuelle, Diktatur und Demokratievon Konrad H. Jarausch | Seite 25 |
Horkheimer und der Totalitarismus:eine eigentümliche Distanzvon Manfred Lauermann | Seite 47 |
Diskussion | Seite 75 |
2. Bertolt Brecht und die Faschismustheorien | |
Diskussion | Seite 75 |
Ein Wunsch Brechts im Jahre 1945von Silvia Schlenstedt | Seite 85 |
Brechts Auseinandersetzung mit den Faschismustheorien nach 1933 und 1945von Detlev Schöttker | Seite 93 |
Brecht, Marx und die jüdische Fragevon Manfred Voigts | Seite 105 |
Ein wildgewordener Kleinbürger?Hitler-Parodien bei Brecht und Chaplinvon Jost Hermand | Seite 115 |
»Und kein Führer führt aus dem Salat«- Brecht, der antistalinistische »Stalinist«von Klaus Völker | Seite 127 |
3. Brecht im Spannungsfeld zwischen Avantgarde und Staatskunst | |
Die Ästhetik des Opfers bei Brecht und in der russischen Literatur der 20er und 30er Jahrevon Rainer Grübel | Seite 153 |
Brecht und der Stalinismus.»Der Vorhang zu und alle Fragen offen«von David Pike | Seite 182 |
Lieder in Rot und Braunoder »Entwendungen aus der Kommune« (Ernst Bloch)von Jürgen Schebera | Seite 202 |
»Der verdiente Mörder des Volkes« - Brecht und Stalinvon Gerd Rienäcker | Seite 210 |
Brecht und die Renegatenvon Michael Rohrwasser | Seite 218 |
Diskussion | Seite 230 |
Zu den Autorten | Seite 251 |
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