
Recherchen 76
Trust
von Falk Richter
Herausgegeben von Nicole Gronemeyer
Paperback mit 200 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-940737-77-9
Falk Richter zählt zu den erfolgreichsten deutschen Dramatikern und Theaterregisseuren. In seinen hochaktuellen Stücken legt er die Nerven der Gegenwart bloß, zerlegt Sprechweisen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, seziert und arrangiert Handlungsstränge und Figurenskizzen, um daraus fantastische, musikalisch verdichtete Sprachschleifen zu entwickeln.
„Trust", sein jüngstes Projekt, das er gemeinsam mit der Choreographin und Tänzerin Anouk van Dijk im Oktober 2009 an der Berliner Schaubühne zur umjubelten Uraufführung brachte, fragt nach dem Verhältnis von System und Vertrauen, nach den Mechanismen und Verflechtungen von Finanz- und privaten Beziehungssystemen vor dem Hintergrund gegenwärtiger Krisen und einer radikalen Individualisierung des modernen Menschen. Das Buch versammelt die Textmaterialien zu „Trust" und gibt in begleitenden Essays einen einmaligen Einblick in die besondere Arbeitsweise Falk Richters.
Ein Titel kann ein Auftrag sein an einen Autor, sagt Falk Richter. Trust ist der Titel des Stückes, das er als Autor und Regisseur gemeinsam mit der Choreographin Anouk van Dijk im Oktober 2009 an der Berliner Schaubühne herausgebracht hat. In diesem Titel verschränken sich die zwei Bedeutungen des Wortes - das persönliche Vertrauen in privaten Beziehungen und der global agierende Wirtschaftskonzern - und so fragt das Stück im Jahr der Krise danach, was mit uns passiert, wenn beides zusammenbricht und sich das Burn-out des Einzelnen mit dem globalen Crash der Wirtschafts- und Finanzsysteme verbindet. Diese Erschöpfung und die Suche nach einer Möglichkeit, sie zu überwinden und wieder ins Handeln zu kommen, zeichnet die Grundstimmung von Trust und macht es zu einer intensiven Beschreibung der Gefühlsökonomie der Gegenwart.
Das vorliegende Buch begibt sich auf die Spuren von Trust. Den Anfang machen ein Gespräch mit Falk Richter und Texte über die Arbeit an diesem Projekt und über das Ereignis auf der Bühne. Sie zeigen, wie sich aus der gemeinsamen Improvisation von Schauspielern und Tänzern Dialoge, Szenen, Bewegungsabläufe entwickelt haben. Anouk van Dijk beschreibt auf sehr persönliche Weise in „As far as we can go", wie es ihr darum ging, das Thema aus gegenläufigen Energien zu entwickeln und körperliche Grenzen auszuloten. Hans-Thies Lehmann zeichnet in einer sehr genauen, beinahe phänomenologischen Betrachtung die Inszenierung nach und analysiert die Arbeit von Falk Richter als Autor.
Mitte und Zentrum dieses Buches sind die Texte von Trust. Dazu gehört nicht nur die Spielfassung des Stücks, sondern auch eine Sammlung von Texten und Notizen - das Material -, das Falk Richter im Mai 2009, kurz vor Beginn und am Anfang der Proben geschrieben hat. Dieses Material ist eine Art von Improvisation mit unterschiedlichsten Textformen, datierte, tagebuchartige Notizen, in denen der Autor sich selbst unter Beobachtung stellt, das Thema umkreist und über das eigene Tun nachdenkt. Zugleich macht diese Sammlung den Schreibprozess nachvollziehbar: Passagen, die sich verdichten und an Fahrt aufnehmen, um dann unversehens in den Text überzugehen, den man in der Spielfassung wiederfindet.
Falk Richter setzt sich als Künstler in besonderem Maße mit Theorien der Gegenwart auseinander. In Trust haben sich Schriftsteller, Wissenschaftler oder Denker mit ihren Arbeiten eingeschrieben, die wir nun wiederum gebeten haben, über und für Trust zu schreiben. Sie tun das, indem sie Stück und Material in ihren Beiträgen zu diesem Buch zitieren und kommentieren - eine Arbeitsweise, die hier auch auf grafischer Ebene ihren Ausdruck findet. So ist etwas entstanden, was man heute in unterschiedlichen Systemen als Rückkopplung bezeichnet. Die Definition dieses Begriffes besagt: „In der Natur kommen Rückkopplungen oft nicht nur in einem einzeln zu betrachtenden System vor, sondern in komplexen Strukturen, in der die Elemente auch über andere, zum Teil entfernt gelegene Systeme, über Umwege und Verzögerungen wieder auf sich selbst zurückwirken. Dabei können oft nicht vorhersagbare Phänomene auftreten."
Im März und April 2010 hat Falk Richter Gespräche mit Richard Sennett und Eva Illouz für dieses Buch geführt, zwei Soziologen, deren Studien über den Menschen im Kapitalismus entscheidenden Einfluss auf Trust hatten. Richard Sennett hat die soziale Dynamik innerhalb des Finanzsektors untersucht und beschreibt, wie das Versagen des Systems sozialer Kommunikation - das Leben in der Blase, wie er sagt - zum Auslöser der Finanzkrise wurde. An die Stelle von Respekt und Ehrgefühl sei eine alltägliche Diplomatie getreten, die mit Masken arbeitet: „Ich vertraue dir nicht, aber ich will, dass du mir vertraust."
Eva Illouz spricht mit Falk Richter über Gefühle in modernen Beziehungen, in denen es unentwegt darum geht, zwischen Vertrauen und Misstrauen abzuwägen, und sie erklärt, warum Wut zu den Gefühlen gehört, die wir heute nicht mehr zeigen dürfen.
„Vertrau mir" - so beginnt Judith ihre lange Textvolte, während derer sie ihrem Mann Kay mehrfach versichert, sie habe zwar sein Geld verschenkt, mehrere Milliarden verschleudert, ihn betrogen und seinen gesamten Besitz veruntreut, aber sie mache alles wieder gut und bald würde sich alles ändern, er könne ihr vertrauen. Bernd Stegemann beschreibt, wie sich der Titel Trust hier in seiner ganzen Doppelbödigkeit zeigt und Verschuldung und Veruntreuung im ganz großen Stil auf der Vertrauensebene einer Beziehung verhandelt wird. Es ist das System der Gesellschaft selbst, das hier spricht, sagt er, und erläutert den Mechanismus, der Vertrauen durch systemische Funktionen ersetzt hat.
Gibt es einen Ausweg aus diesem Verhängnis? Muss nicht in Zeiten, in denen Manager durch ungewisse Spekulationen das System an den Rand des Bankrotts geführt haben, Widerstand geleistet werden? Lars Distelhorst zeigt, wie die Formulierung von Kritik zu einem Konsumprodukt wird, zu einem Style, der seinem Träger eine Art radical chic verpasst und zu einer narzisstischen Projektion des eigenen Egos wird. Doch - so seine Hoffnung - wenn wir die Kraft aufbringen, den Anderen mit seinen Bedürfnissen wahrzunehmen und in Kontakt mit ihm zu treten, finden wir auch die Kraft, den so erschöpfenden narzisstischen Zirkel zu durchbrechen und eine Utopie zu denken.
Was tun? Es gibt in Trust keine Antwort auf diese Frage, ja vielleicht noch nicht einmal die Frage selbst, so Wolfgang Fritz Haug in seinem Text „Mimesis der Praxislosigkeit". Was hier stattfindet, ist ein Theater der Latenz: „Die Handlung des Stücks besteht darin, dass es nicht - vielleicht noch nicht - zur Handlung kommt." Die Figuren können nicht sprechen, aber in ihnen gibt es einen noch ungewagten Schrei, dessen Richtung noch nicht heraus ist.
Dem undeutlich artikulierten Wunsch auf Veränderung haben Ralph und Stefan Heidenreich in einem Buch eine radikale Absage erteilt, das für Falk Richter während der Arbeit an Trust sehr wichtig war: In Mehr Geld heißt es: „Vom Feld der immateriellen Arbeit kann kaum eine Revolution ausgehen. Denn deren Macht beschränkt sich darauf, sozialen Status zu codieren. Sie würde sich einzig und allein selbst abschaffen, wenn sie aufhörte, zu produzieren. Ihre Anhänger mögen so revolutionäre Meinungen absondern, wie sie wollen. Sie verlieren sich in der Symbolisierung von sozialen Unterschieden und mit dem Kauf eines Che-Guevera-T-Shirts ist ihren Wünschen gänzlich Genüge getan." So befragt, reagieren die Brüder auf Richters Stück mit einem „Anti-Trust" und kehren die Perspektive um: Innerhalb des kühlen Verwertungszusammenhangs von Wirtschaft und Finanzen stellt sich am Ende die Frage, ob der Erhalt des Staats für das System der Banken noch von Relevanz ist.
„Die Lüge ist ein Privileg des Homo sapiens. Oder?" fragt Wolfgang Engler und beschreibt in 17 Punkten eine Anthropologie der Lüge. Hand und Zunge sind in der Lage, die Fähigkeit der Lüge zu erwerben, durch Selbstbeherrschung kann man mit ihr bestehen. Und unsere Menschenkenntnis basiert letztlich darauf, dass wir gelernt haben, die Lüge zu lesen. Und das Vertrauen? Es muss seine Unschuld verlieren, erst dann ist es ein Vermögen des Menschen.
Eine solche Dialektik weist Oliver Kluck weit von sich. Politik, Demokratie, sie haben, das hat die Krise mehr als deutlich gezeigt, komplett versagt. Also warum sollte man darüber nachdenken? Kluck antwortet auf die Fragen, die Trust ihm stellt, mit einem Theatertext: „Skizze zur Dekonstruktion der Müdigkeit im Oligopolraum West" taucht ein in die private Befindlichkeit und erlaubt nur das „ich" und das „ihr", dem Richterschen „uns" verweigert er sich: „und ich werde nicht wütend werden über eure so genannte Wut, eure Empörung und euer Wehklagen. Ich werde auch nicht anfangen in Halbsätzen zu reden, Wortgruppen, einzelnen Wörtern der inneren Zerrissenheit".
Wo also finden wir das Wir? Ein Stück kann auch ein Auftrag sein an einen Leser.
Nicole Gronemeyer
Berlin, April 2010
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Suche nach HaltungFalk Richter, Nicole Gronemeyer und Bernd Stegemann im Gesprächvon Nicole Gronemeyer, Falk Richter und Bernd Stegemann | Seite 11 |
Aa Far as we can govon Anouk van Dijk | Seite 27 |
Ra(s)t / lose / Erschöpfung, Halbruhevon Hans-Thies Lehmann | Seite 31 |
Trustvon Falk Richter | Seite 49 |
Trustmaterialvon Falk Richter | Seite 103 |
Das System sozialer Kommunikation versagte auf ganzer LinieEin Gespräch zwischen Falk Richter und Richard Sennettvon Falk Richter und Richard Sennett | Seite 136 |
MIßtrauen und WutEin Gespräch zwischen Falk Richter und Eva Illouzvon Falk Richter und Eva Illouz | Seite 150 |
Vertrauen und Systemvon Bernd Stegemann | Seite 159 |
Von Angesicht zu Angesichtvon Lars Distelhorst | Seite 166 |
Mimesis der Praxislosigkeitvon Wolfgang Fritz Haug | Seite 173 |
Anti-Trustvon Ralph Heidenreich und Stefan Heidenreich | Seite 179 |
Vertrauen und Lügevon Wolfgang Engler | Seite 188 |
Über die Unmöglichkeit einer Antwortvon Oliver Kluck | Seite 195 |
Autorinnen und Autoren | Seite 197 |
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Nicole Gronemeyer
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Bibliographie
Beiträge von Nicole Gronemeyer finden Sie in folgenden Publikationen:


Heft 06/2017
Schauspiel Leipzig
Martin Linzer Theaterpreis 2017

¡Adelante!
Iberoamerikanisches Theater im Umbruch / Teatro Iberoamericano en tiempos de cambio
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