»Lasset die Kindlein...« Kinder schmücken. Sie »putzen ungemein«. Daß sie ein verlockend hübsches Beiwerk sind bei Festveranstaltungen und politischer Repräsentanz - wer von den unzähligen Diktatoren allein dieses Jahrhunderts von Hitler über Stalin bis zu Ceaucescu und Saddam Hussein - hat das nicht gewußt? Die Unschuld der Kinder, ihre Arglosigkeit ihr hilflos-rührendes Ausgeliefertsein bot/bietet immer wieder Möglichkeiten für die Macht ihre eigene Brutalität zu verharmlosen. Da wird einem Jungen väterlich die Wange getätschelt dort ein kleines Mädchen auf den Arm genommen...
Auch in der Vergangenheit unserer Vergangenheit der ehemaligen DDR, war das Kind ein beliebtes Vorzeigeobjekt für die Politiker. Ob als Pioniere, ob in Fanfarenzügen, ob bei Sport Spiel, in Schule und Wissen schaft - Kinder und Jugendliche repräsentierten gleichsam das glückliche und glückverheißende Bild einer in rosarot getauchten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie bildeten die Gewähr für das, was sein sollte und - gefälligst - zu sein hatte: ein konfliktfreies, »der Zukunft zugewandtes« Leben. Lautete doch tatsächlich eines der Pioniergebote, daß Pioniere, also Kinder, »immer fröhlich« seien. Damit wurden ihre Konflikte, Probleme, ihre Schmerzen, Ängste und Tränen gewissermaßen als nicht existent erklärt, vorhandene Widersprüche - hier wie in vielen anderen Wirklichkeitsbereichen - nivelliert. Ein solches Vorgehen zeitigte
verheerende Folgen. Denn die Kinder und Jugendlichen lebten vielfach in einer konfliktreichen, sie schwer belastenden Schizophrenie: Ihre Haltung in der Öffentlichkeit entsprach zwar meist dem gewünschten Bild, die eigentliche, innere Haltung jedoch meinte oft genau das Gegenteil davon. Verdrängte Aggressionen, unbewältigte Konflikte oder angepaßtes, unredliches Verhalten waren dann häufig die Folge: das Kind als Objekt der Manipulation, nicht als sich frei entfaltendes, kreatives Individuum. Eingepaßt ins Kollektiv, behütet beobachtet gegängelt - oft schon im zarten Alter, durch die Schulzeit bis hin zum Arbeitsplatz.
Allerdings wurde eine solche Haltung auch belohnt. Und die ehemals Mächtigen achteten darauf, daß den Kindern etwas geboten wurde. Subventionen für zahlreiche Dinge (des täglichen Bedarfs ebenso wie für Sport Spiel, Wissenschaft und Kultur) ermöglichten jedem Kind bzw. Jugendlichen, egal welcher Herkunft sich seiner speziellen Fähigkeiten entsprechend zu betätigen. Erinnert sei an Arbeitsgemeinschaften, Kinderbibliotheken, Kinderhörspiel und -schallplatten, den Kinderbuchverlag u. v. m. - und nicht zuletzt die Kindertheater. Daß durch diese Möglichkeiten die Kluft zwischen gewünschter (angepaßter) Haltung und eigens gewollter Individualität nur größer werden mußte, scheint den Schaltstellen der Macht in der ehemaligen DDR nicht bewußt gewesen zu sein ...
Nun haben sich die Verhältnisse rigoros geändert. Und damit vieles, was für uns so feststehende Größen zu sein schienen. Die Möglichkeit das, was auf die Habenseite der ehemal igen DDR zu buchen war, unangetastet zu lassen, wird fast durchweg verschenkt. Die Möglichkeit alles das, was für die Kinder wichtig und von Bedeutung war, lediglich des manipulierenden Zugriffs zu entkleiden, es weitgehend zu entideologisieren, wird (meist) vertan. Schon bangen wir um die ehemaligen Kinderkrippen. Die Preise für einen Kindergartenplatz werden rigoros in die Höhe schießen. Der Kinderbuchverlag kränkelt. Das Kinderhörspiel ist kläglich geschrumpft. Die Zukunft der Stätten, wo Kinder in ihrer Freizeit Betätigungsfelderfanden (Arbeitsgemeinschaften z. B.) ist ungewiß. Subventionen für Kindertheater werden gestrichen oder sind gefährdet...
Das Leipziger Kindertheater besitzt kein eigenes Haus mehr. Es spielt gastweise irgendwo oder geht in die Schulen. Muß das so bleiben? Das Theater der Freundschaft arbeitet seit einem Jahr ohne Intendanten. Wann wird diese unmögliche Situation geklärt? Die Subventionen für Bertin sollen gekürzt werden. Wen wird das am ärgsten treffen? Die Theater (und Freien Gruppen), die für Kinder spielen. Also auch »Grips« und »Rote Grütze«. Zwar - jetzt redet man nicht mehr hinein in Spielplan und Repertoire. Aber diese Freiheit kann uns unter Umständen teuer zu stehen kommen. Statt ideologischem Druck herrscht der finanzielle Druck, und statt politischer Unfreiheit droht jetzt die existentielle Unsicherheit.
In einer solchen Zeit des Umbruchs und der Gefährdung setzt das 1. Deutsche Kinder- und Jugendtheatertreffen, das vom 21. bis 27.4. unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker stattfindet, ein Zeichen der Hoffnung. Kinder- und Jugendtheater aus dem östlichen und westlichen Teil Deutschlands werden sich in Berlin begegnen, werden bestehende Kontakte vertiefen oder Beziehungen neu knüpfen. Sie werden über ihre Probleme, Sorgen, Nöte und Ängste, ihre Hoffnungen und Wünsche miteinander und mit dem Publ ikum reden (können), sie werden (hoffentlich!) über künstlerische Arbeit und Ergebnisse streiten. Vor allem aber wird dieses Treffen der Öffentlichkeit die Bedeutung und Notwendigkeit von Kinder- und Jugendtheater verdeutlichen. Nicht um ihrer selbst willen. Nicht der Repräsentanz wegen. Sondern um dessentwillen, was das Zentrum einer Gesellschaft sein muß: das Kind.
Ingeborg Pietzsch
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Entrée | Seite 1 |
»Lasset die Kindlein ...«von Ingeborg Pietzsch | |
Autoren | Seite 2 |
Impressum | Seite 3 |
Oper | Seite 4 |
Doppelbödig verpackte Orangen»Die Liebe zu den drei Orangen« in Münchenvon Dagmar Mammitzsch | |
Gespräch | Seite 4 |
Gespräch mit Jurij Ljubimowvon Jurij Ljubimow und Dagmar Mammitzsch | |
Porträt | Seite 6 |
Sergej ProkofjewAuf der Suche nach dem verlorenen Sohnvon Sigrid Neef | |
Uraufführungen | Seite 13 |
Leben Tod HoffnungZur Uraufführung der Kammeroper »Matka« von Annette Schlünz in Leipzig (Kellertheater)von Wolfgang Lange | |
Gespräch | Seite 13 |
Gespräch mit Annette Schlünzvon Ilsedore Reinsberg und Annette Schlünz | |
Oper | |
Punkgirl im TarndressNeustrelitz / Bautzen: »Ritter Blaubart« von Jacgues Offen bachvon Uwe Hübner | Seite 16 |
Du darfstFrankfurt/Main und Halle: »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« von Brecht / Weillvon Verena Graubner | Seite 17 |
Eine Fürbitte für RienziLandestheater Linz: »Rienzi« von Richard Wagnervon Irene Bazinger | Seite 18 |
Flirrendspiegelnde FarbenBühnen der Landeshauptstadt Kiel: »Es war einmal« von Alexander Zemlinskyvon Rolf Fath | Seite 19 |
Bayerischer BilderbogenBühnen der Stadt Bielefeld: »Lohengrin« von Richard Wagnervon Nora Eckert | Seite 20 |
Das PflanzenbiestKleist-Theater Frankfurt/Oder: »Der kleine Horrorladen« von Ashman / Menkenvon Wolfgang Lange | Seite 21 |
Erst Koksen, dann StrettaOper Leipzig: »Il Trovatore« von Giuseppe Verdivon Irene Tüngler | Seite 22 |
Gespräch | Seite 23 |
Ich bin ein Bleiber!Im Gespräch mit Ingolf Huhnvon Wolfgang Lange und Ingolf Huhn | |
Inszenierungen | Seite 26 |
Eigen-Sichten»Romeo und Julia« im Prokofjew-Jahr - Aufführungen in Genf, Köln, Lyon, Strasbourg und Ulmvon Hartmut Regitz | |
Tanztheater | |
Ausweg: AndersseinTanz zwischen Rhein und Ruhr - Aufführungen in Bochum, Dortmund, Essen und Gelsenkirchenvon Volkmar Draeger | Seite 30 |
»Wer Märchen mag«Komische Oper Berlin: »Aschenbrödel« von Prokofjew / Schillingvon Werner Gommlich | Seite 35 |
Tanztheater Tom SchillingEine Retrospektivevon Dietmar Fritzsche | Seite 36 |
Verzichten - oder rächen?Freie Kammerspiele Magdeburg: MEDEAmomente - Tanztheater von FINE Kwiatkowskivon Dietmar Fritzsche | Seite 38 |
Choreographie-FieberLandestheater Halle: »Kammertanzabend«von Ralf Stabel | Seite 38 |
Tänzerisch brillant, psychisch quälendOpernhaus Leipzig: »Julien Sorel« von Elgar / Vámos nach Stendhalvon Werner Gommlich | Seite 39 |
Provozierende StilleBallett Frankfu rt: »The Sound of One Hand Clapping« von Jan Fabrevon Hartmut Regitz | Seite 40 |
Zum AbschiedThéâtre de la Monnale Brüssel: »The Hard Nut« von Mark Morrisvon Hartmut Regitz | Seite 41 |
Freie Gruppen | |
Deutsch, deutscher, am deutschestenBerliner Prater: »Schwarzer Rotgold« von Freya Kliervon Silvia Brendenal und Freya Klier | Seite 42 |
Weder Anpassung noch TrendGespräch mit Freya Kliervon Michael Kliefert und Martin Morgner | Seite 42 |
Normalität trotzdemGruppe Handgemenge: »Der Teufel mit den 3 goldenen Haaren«von Ernst-Frieder Kratochwil | Seite 43 |
Bericht | Seite 44 |
Weite WegeDas Parchimer Theater erschließt sich neue ästhetische und territoriale Räumevon Hartmut Krug | |
Inszenierung | Seite 49 |
Der Revisor in New Strelitzvon Tobias Lenel | |
Gespräch | Seite 50 |
Es darf nichts wegbrechenGespräch mit Rainer Lorenz, Leiter der Abteilung Kultur der Landesregierung Mecklenburg/Vorpommernvon Volker Trauth und Rainer Lorenz | |
Schauspiel | Seite 52 |
LaienspielGastspiel des Theaters Freudenhaus, Essen, mit »Weitere Aussichten« von Kroetz in Neustrelitzvon Volker Trauth | |
Kommentar | Seite 54 |
Geht das Theater baden?Bemerkungen zu Andreas Kriegenburgs »Medeia« (Frankfurt/Oder) und Leander Haußmanns »Fiesco« (Weimar)von Martin Linzer | |
Schauspiel | |
AbgründeWien / Burgtheater: »König Ottokars Glück und Ende« von Grillparzervon Eberhard Görner | Seite 56 |
Vom Wir zum IchPeter Dehlers Truppe in Schwerinvon Volker Trauth | Seite 56 |
Hallenplausch und SofasäuselnSchwerin: »Der zerbrochene Krug« und »Penthesilea« von Kleistvon Jochen Gleiß | Seite 58 |
Starke BräuteBerlin / Maxim Gorki Theater »Top-Girls« von Caryl Churchillvon Joachim Knauth | Seite 59 |
Spektakel der GewaltsamkeitDas Meinlnger Theater: »Extremities (Bis zum Äußersten)« von William Mastrosimonevon Rainer Junghanß | Seite 60 |
»... und treiben mit Entsetzen Scherz«Hans-Otto-Theater Potsdam: »Noch ist Polen nicht verloren« von Jürgen Hofmann (nach Melchior Lengyel )von Ingeborg Pietzsch | Seite 61 |
Ein Angepaßter erklärt sichStädtische Bühnen Erfurt: »Das Verfahren« von Reinhard Kuhnertvon Rainer Junghanß | Seite 62 |
Flüchtigkeiten mit Langzeitwirkung?Senftenberg / Neue Bühne: Rock Collage »KänGURU«von Matthias Renner | Seite 62 |
Report | Seite 64 |
Politisch ein garstig Wort?Eine Woche Esslingen - ein Reportvon Silvia Brendenal | |
Gespräch | |
Theater ist ähnlich und doch andersGespräch mit der Oberspielleiterin Tatjana Resevon Silvia Brendenal und Tatjana Rese | Seite 66 |
Zwischen Großstadt und SchweinemarktGespräch mit dem Intendanten Jürgen Flüggevon Silvia Brendenal und Jürgen Flügge | Seite 71 |
Essay | Seite 72 |
Vorbei am Theater, so wie es istÜber die Arbeiten einiger zeitgenössischer Autoren (2)von Klaus Völker | |
Stück | Seite 78 |
Im Namen der Links- oder Rechtsstaatlichkeitvon Ines Eck | |
Antworten und Widerspruch | Seite 78 |
Warum ich schreibevon Ines Eck | |
Stück | Seite 81 |
Der Antrag(Für EIe)von Lutz Turczynski | |
Magazin | |
1. Deutsches Kinder- und lugendtheatertreffenin Berlin 1991 | Seite 84 |
»Bild und Szene 3«von Ingeborg Pietzsch | Seite 85 |
Akademisches | Seite 85 |
Zwischen Puppe und Theatervon Hartmut Topf | Seite 85 |
Haus Dramavon Martin Linzer | Seite 86 |
Pinter 60von Della Couling | Seite 87 |
Musik für die Oper?Mit Komponisten im Gespräch. Herausgegeben von Gerd Belkius und Ulrike Liedtke. Henschel Verlag Berlin 1990. 352 Seiten. 16,50 DMvon Uwe Hübner | Seite 87 |
Spielpläne | Seite 88 |
April 1991 | |
Premieren | Seite 91 |
April 1991Deutschland / Österreich / Schweiz | |
Besetzungen | Seite 92 |
Ur- und Erstaufführungen / Schauspiel |
Irene Bazinger
Silvia Brendenal
Della Couling
Volkmar Draeger
Ines Eck
Nora Eckert
Rolf Fath
Jürgen Flügge
Dietmar Fritzsche
Jochen Gleiß
Werner Gommlich
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Uwe Hübner
Ingolf Huhn
Rainer Junghanß
Michael Kliefert
Freya Klier
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