
Heft 09/1991
Freie Gruppen in alten Ländern
Broschur mit 96 Seiten, Format: 220 x 310 mm
ISSN 0040-5418
Theater - Über-Lebens-Mittel: Wie wenig Theater politisch bewirken kann, das weiß man doch inzwischen; aber wie hilfreich kann Theater für das menschliche Individuum sein, heute, angesichts der in Kämpfen und Krämpfen sich windenden Welt? Unsere Probleme, im zwanghaft wiedervereinten Deutschland, mit Abschwung Ost und Treuhandskandalen, mit Stasi-Altlasten und neuen Seilschaften, scheinen mir dabei manchmal kleinkariert, schaue ich in die Runde: da sind die Rauchwolken des Golfkriegs kaum abgezogen, da beginnt es auf dem Balkan zu lodern, beginnen noch weit vor der Türkei die Völker aufeinanderzuschlagen, vom »Frieden im Osten« keine Spur, Unruhe, nationale Spannungen allenthalben - ist der »Lehrsatz«, daß nationale Fragen auch immer soziale Fragen sind, auch »abgewickelt«? - rütteln an den Grundfesten einst für »monolithen« gehaltener Staatsgebilde. Die neuen Gespräche der Super-Männer eine neue Hoffnung? Die neue Völkerwanderung jedenfalls - der von Süd nach Nord folgt längst die von Ost nach West - schwappt auch in die unterprivilegierte Ostzone der neuen Republik, die von vielen schon als das Paradies erahnt und ersehnt wird.
Ich frage mich nur, ohne das Wort zum Sonntag, den so redseligen wie ratlosen Kommentar der Medien hier noch einmal nachvollziehen zu wollen: wie kann Theater darauf reagieren, ohne sich selber aufzugeben, ohne wieder zum Medienersatz zu verkommen, wie kann es der Rat- und Orientierungslosigkeit der Menschen begegnen? Peter Palitzsch, von Brecht herkommend und nicht im Verdacht, seine Kunst im Elfenbeinturm zu zelebrieren, einem aufklärerischen Theater zeit seines Bühnenlebens verpflichtet, meinte in einem Publikumsgespräch, zu seinen Ehren während des Theatertreffens veranstaltet, er hielte es schlichtweg für blödsinnig, jetzt etwa den »Besuch der alten Dame« zu spielen, wo es den Menschen schon schwer genug fiele, den Mut zum allmorgentlichen Aufstehen zu finden. Er hatte dabei wohl vor allem die Menschen in den östlichen Landesteilen im Auge. Der Dürrenmatt-Titel, ein braves Stück des Schweizers, war natürlich als Beispiel gemeint, und vielleicht war es nicht das glücklichste. Aber die Botschaft ist doch klar, und in der kann ich keine Zurücknahme des gesellschaftlichen Auftrags von Theater erblicken. Es ginge allenfalls darum, den Auftrag neu zu formulieren. Eingreifendes Theater im Brechtschen Sinne, dem nicht abzuschwören ist, muß heute vielleicht erst einmal Mut machendes Theater sein, bezogen auf den Menschen als Einzelwesen, nicht gleich wieder verstanden nur als »Kollektiv«. Theater als Lebenshilfe, als Über-Lebens-Mittel.
Die Alternative zum »Besuch der alten Dame« ist dabei sicher nicht - mag auch dieses Beispiel hinken - das »Schwarzwaldmädel« oder die dramatisierte »Schwarzwaldklinik«. Und überhaupt wird das Über-Lebens-Mittel Theater nicht auf Rezept zu haben sein. Es kann Shakespeare heißen oder Heiner Müller, Sophokles oder Beckett, Goethe oder... (Name eines jungen Autors nach Wahl einsetzen). Das scheinbar so naheliegende »Alle-Menschen-werden-Brüder«-Konzept Peter Brooks - ich habe in Avignon jüngst den europäischen Siegeszug seiner »Sturm«-Produktion erlebt - erscheint mir allerdings, halten zu Gnaden, etwas zu simpel oder zu naiv, als daß es über eine christlich motivierte Mitleidsbereitschaft und Mitleidsfähigkeit hinaus zu tätiger Solidarität führen könnte.
Der in der Besetzung sich manifestierende Ansatz jedoch (damit meine ich nicht nur den aus der französischen Aufklärung geliehenen Aspekt des »edlen Wilden«), die »Grenzüberschreitung«, ist ein zutiefst produktiver Ansatz bei Brook - anders akzentuiert bei der Mnouchkine, bei Strehler, bei Stein, bei anderen »europäischen« Regisseuren. Was wir davon lernen können/müssen, ist meines Erachtens die Überwindung der nationalen Nabelschau . Verständlich, daß hinter der Mauer - das Theater ein Medienersatz jedes Werk vor allem darauf untersucht wurde, ob es als Metapher tauge auf unser Gefängnis-Dasein hinter Mauern. Aber weder Helsingör noch Prosperos Eiland noch Böhmen am Meer waren je nur die »DDR«, diese poetischen Orte bedeuteten stets »Welt« in ihrer (historischen wie aktuellen) Zerrissenheit, darin der Schnittpunkt unseres Längen- und Breitengrads eben ein - winziger - Punkt ist. Die künstlerische Umsetzung solch Verständnisses von Welt und Kunst muß nicht zwangsläufig zu abstraktem, allgemeinmenschlichem, politisch ambivalentem Humanismus führen, sondern kann schon unser politisches Bewußtsein schärfen, uns klüger und widerstandsfähiger machen, auch gegen die kleinen Sorgen des Alltags, den neuen Provinzialismus in unseren Breiten mit seinen fatalen ökonomischen wie auch sozialpsychologischen Folgen.
Theater kann/muß nach meiner Überzeugung helfen, uns von unseligem DDR-Zentrismus zu heilen, dem DDR-Syndrom, uns begreiflich zu machen, sinnlich begreiflich zu machen, daß unsere Probleme ein Teil der europäischen, der globalen Probleme sind und denen zumeist untergeordnet. Was den Politikern nicht gelingen will, jedenfalls nicht über pragmatische Schritte hinaus, einen europäischen Diskurs zu entwickeln, scheint auf der Bühne möglich und in Ansätzen schon praktiziert: den Dialog mit der Welt zu führen, und dabei die eigene Stimme kräftig zu entfalten. (Gesamt-)deutsches Theater, wenn es sich denn als Über-Lebens-Mittel begreift, wird sich in diesem Kontext auch als europäisches, als Welt-Theater begreifen müssen. Besonders hier, im Schnittpunkt von Nord und Süd, von Ost und West.
Martin Linzer
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Entrée | Seite 1 |
Theater - Über-Lebens-Mittelvon Martin Linzer | |
Autoren | Seite 2 |
Impressum | Seite 3 |
Essay | Seite 4 |
Der verhängte SpiegelÜber das Theater Giacomo Meyerbeersvon Gerhard Müller | |
Musiktheater | Seite 10 |
Turbulenzen, Wiedergutmachung, AlternativesMusiktheater zu den Wiener Festwochenvon Gottfried Blumenstein | |
Kinder- und Jugendtheater | Seite 16 |
Einladung zum MitspielTreffen der Kinder- und Jugendtheater Baden-Württembergs in Bruchsalvon Volker Trauth | |
Gespräch | Seite 16 |
Phantasie schulenGespräch mit Brigitte Dethiervon Brigitte Dethier und Volker Trauth | |
Wiedereröffnung | Seite 20 |
Glanz in der BorngasseZur Wiedereröffnung des Stadttheaters Freiberg mit Mozarts »Zauberflöte«von Wolfgang Lange | |
Oper | |
Spiel mit irrationaler RealitätNiederländische Oper Amsterdam: »Herzog Blaubarts Burg« von Bartókvon Bettina-Cornelia Schmidt | Seite 22 |
Institution Bürgerliche EheTheater Greifswald: »Doktor Mirakel« von Bizet und »Rita« von Donizettivon Jens Knorr | Seite 23 |
Orchestrales LeuchtenBremer Theater: »Die Vögel« von Braunfelsvon Rolf Fath | Seite 24 |
Kompliziertes Vexierspiel als VernissageTheater der Landeshauptstadt Kiel: »Vincent« von Rautavaaravon Rolf Fath | Seite 24 |
Etwas verschlafenStadttheater Basel: »La Traviata« von Verdivon Nora Eckert | Seite 25 |
Komisch verwässertOper Leipzig: »Die Hochzeit des Figaro« von Mozartvon Wolfgang Lange | Seite 25 |
Dramma eroicoBerlin / Kammeroper: »Armida« von Joseph Haydnvon Uwe Hübner | Seite 26 |
Puppentheater | Seite 28 |
Soll und Haben (2)Eine Bestandsaufnahme: die Puppenbühnen Mecklenburg-Vorpommernsvon Silvia Brendenal | |
Inszenierung | Seite 33 |
»Europa, Europa!«Journey to Delphi / Auf dem Weg nach Delphivon Martin Morgner | |
Kindertheater | Seite 34 |
Szenische ImprovisationenNeue Kinderproduktionen im Umfeld der Gruppe Zinnobervon Ernst-Frieder Kratochwil | |
Freie Szene | |
Zurück zu den FleischtöpfenZur Situation und Problemen der Freien Szene (in den alten Bundesländern)von Peter B. Wyrsch | Seite 36 |
Theater - Laufende MeterExperimente am lebenden Zuschauer (»Hopscotch« in Berlin / »Du - Die Stadt« in Münchenvon Martin Morgner | Seite 40 |
Tanz | |
Die Asthetik des AggressivenZum Gastspiel der Batsheva Dance Companyvon Volkmar Draeger | Seite 44 |
Die Kunst dominierteIn Ulm veranstaltet: Das Europäische Ballettfest der Jugendvon Hartmut Regitz | Seite 46 |
Trio im SeelenstreßBerlin / Tanztheater »Cercle Scharmant« (im Varieté Chamäleon): »Time Wasting Faces« von Thomas Guggivon Dietmar Fritzsche | Seite 47 |
Von tragischer AktualitätBühnen der Stadt Magdeburg: »Der Bonvivant« von Peter Tornew / Strauß-Dynastievon Volkmar Draeger | Seite 48 |
Eigen-SinnFolkwang Tanzstudio Essen: »Rote Rosen« von Rainer Behr / »Going Home« von Carolyn Carlsonvon Birgit Kirchner | Seite 49 |
Porträt | Seite 50 |
Der Tänzer Jörg SimonVersuch eines Porträtsvon Werner Gommlich | |
Ballett | |
Experiment: EuroballettEnsemblegründung unter Europa-Ideevon Marina Dafova und Sigrun Kirstein | Seite 52 |
Fenster zu NeumeierBallett-Impressionen in Hamburgvon Dietmar Fritzsche | Seite 56 |
Inszenierung | Seite 62 |
Ein Morden. Endlos.»DieAtriden«-Inszenierung der Ariane Mnouchkine (Théâtre du Soleil)von Ingeborg Pietzsch | |
Schauspiel | |
Von der Krise einer LiebeMagdeburg, Freie Kammerspiele: »Minna von Barnhelm« von Lessingvon Jörg Mihan | Seite 66 |
»Stadt der Scham«Landestheater Salzburg: »Der Prozeß von Schamgorod« von Elie Wiesel (Österreichische Erstaufführung)von Jochanaan Christoph Trilse-Finckelstein | Seite 66 |
Nicht alle Tassen im SchrankRostock / Großes Haus (Hinterbühne): »Glas« von Elfriede Müllervon Friedemann Krusche | Seite 68 |
Vertane ChanceBerlin / Grips-Theater: »Haben Sie ein I?« von Florian Felix Weyhvon Ingeborg Pietzsch | Seite 69 |
Was? Ihr? Wollt?Berlin / Maxim Gorki Theater: »Was ihr wollt« von Shakespearevon Helmut Fensch | Seite 69 |
DeklamationstheaterStendal / Marienkirche: »Faust I« von Goethevon Karla Götz | Seite 70 |
Gebrochenes LebenBerlin / b a t-Studiotheater: »Die Palästinenserin« von Joshua Sobolvon Jochen Gleiß | Seite 71 |
Gesänge vor dem FeuerofenBerlin / Kammerspiele / Deutsches Theater: »Die Minderleister« von Peter Turrinivon Jochen Gleiß | Seite 72 |
Wenig Sex, doch viel KomödieDas Meininger Theater: »Eine Mitternachts-Sex-Komödie« von Woody Allenvon Rainer Junghanß | Seite 73 |
Deutsche Klassik im Schiller-TheaterZu Lessings «Minna von Barnhelm« und Goethes »Iphigenie auf Tauris«von Ingeborg Pietzsch | Seite 74 |
Theater in China | Seite 78 |
Traditionelles Theater in ChinaRückblicke - Anblicke - Ausblickevon Ernst Schumacher | |
Magazin | |
Rettung für das Theater der Roma?von Wolfgang Edler | Seite 83 |
Ballett-Gala in der AdKvon Volkmar Draeger | Seite 84 |
Georg Knepler: »Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen«Henschel Verlag GmbH, Berlin 1991, 500 Seiten, 18 Abb., zahlr. Notenbeispiele 78,- DMvon Uwe Hübner | Seite 84 |
Symposium zur Ausbildungvon Silvia Brendenal | Seite 86 |
Eine zweifelhafte Liebevon Volkmar Draeger | Seite 87 |
Stück | Seite 88 |
Bunkerein spiel von christian martinvon Christian Martin | |
Premieren | Seite 91 |
September 1991 | |
Spielpläne | Seite 91 |
Besetzungen | Seite 94 |
Ur- und Erstaufführungen / Schauspiel | |
Anzeigen | Seite 96 |
Gottfried Blumenstein
Silvia Brendenal
Marina Dafova
Brigitte Dethier
Volkmar Draeger
Nora Eckert
Wolfgang Edler
Rolf Fath
Helmut Fensch
Dietmar Fritzsche
Jochen Gleiß
Werner Gommlich
Karla Götz
Uwe Hübner
Rainer Junghanß
Birgit Kirchner
Sigrun Kirstein
Jens Knorr
Ernst-Frieder Kratochwil
Friedemann Krusche
Wolfgang Lange
Martin Linzer
Christian Martin
Jörg Mihan
Martin Morgner
Gerhard Müller
Ingeborg Pietzsch
Hartmut Regitz
Bettina-Cornelia Schmidt
Ernst Schumacher
Volker Trauth
Jochanaan Christoph Trilse-Finckelstein
Peter B. Wyrsch
€ 6,99
Zu den Apps
Versandfertig in 1 - 3 Werktagen. Kostenfreier Standardversand innerhalb Deutschlands, zzgl. Versandkosten ins Ausland. Alle Preisangaben inkl. MwSt.
Die elektronische Ausgabe steht direkt nach dem Kauf zur Verfügung. Unsere eMagazine können Sie mit nahezu allen Geräten lesen, da das PDF ein plattformunabhängiges Format ist.
Zeitschrift
Neue Bücher

Arbeitsbuch 31
Circus in flux
Zeitgenössischer Zirkus | Contemporary Circus
€ 24,50



Recherchen 163
Charlotte Wegen
Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny im Spiegel von Mythos und Religion
Eine Untersuchung der Opernwerke Ariadne auf Naxos und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
€ 22,00



Theresa Schütz
Theater der Vereinnahmung
Publikumsinvolvierung im immersiven Theater
€ 22,00

Recherchen 156
Ästhetiken der Intervention
Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters
€ 18,00

Anne Fritsch
Pledge and Play
How the Passion Play in Oberammergau Changes a Village and Impacts the World
€ 15,00

Anne Fritsch
Theater unser
Wie die Passionsspiele Oberammergau den Ort verändern und die Welt bewegen
€ 15,00
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
Newsletter abonnieren