Werte, Würde, Werke: Es ist nicht ganz einfach, in dieser verwirrenden neuen Welt anzukommen. Nicht des banalen und lächerlichen Terrorismus des Alltäglichen wegen, der auf andere Weise auch in der DDR zu ertragen war; nicht des ungewohnten Lächelns der Bürokraten wegen, das einen zu irritieren vermag; nicht mal der vielgeschmähten Arroganz und Selbstüberhebung mancher »Westler« wegen, die mir mitunter sogar geringfügig scheint, gemessen an dem alles Abweichende als feindselig brandmarkenden Weltanschauungsmonopol der SED und dem unerschütterlichen Elitegebaren ihrer Nomenklatura (»die Partei, die Partei, die hat immer Recht« hieß es in einem von markigen Chören intonierten Lied); auch nicht der Suffisanz der Verhaltensbelehrung wegen, die einem dann und wann zutei l wird - wer selbstbewußt ist, vermag mit ihr umzugehen und sie in die Schranken ihrer Anspruchsarmut zu verweisen.
Aber ich habe meine Schwierigkeiten mit der Werte- und damit verbunden Würdelosigkeit mancher Dinge und Erscheinungen . Ich lese, daß Rehagel-Otto, berühmter und also glänzend bezahlter Trainer der Bremer Fußball-Profis, einen Schiedsrichter mit einem nicht mal sonderlich originellen Bagatell-Satz bedacht hat, woraufhin das Fußball-Sportgericht Herrn Rehagel zu 1000 DM Strafe verurteilte (verurteilte!) und damit dessen Bußgeld-Konto für ähnliche Delikte schon auf 41 000 DM anwachsen ließ. Bravo! Nun glaube ich allerdings nicht, daß dieses schöne Geld einer guten gemeinnützigen Sache zugeführt wird, es sei denn, man bezeichnet die Fußball-Bürokratie, die auch gut leben möchte, als solche.
Wie aber kam ich, als ich dieses über Rehagel las, auf Jörg Herchet, was ganz abwegig scheint? Ich weiß es nicht, es war einfach da, es hätte auch der Name Gerhard Rosenfeld oder eines anderen Komponisten aus der einstigen DDR sein können. Von Herchet, dem begabten eigenwilligen Paul-Dessau-Schüler, weiß ich, daß er finanziell nicht auf Rosen gebettet ist, wie andere seiner Kollegen nunmehr auch nicht, womöglich steht ihm monatlich nur ein Fünfzigstel der Bezüge Rehagels zur Verfügung. Von dem fordere ich keineswegs, jene DM Bußgeld auf Herchets Konto überweisen zu lassen . Ich erhoffe mir von den vielen selbstgefälligen Rehagels des Sports, der Politik, der Kunst nicht mehr als nur Würde, mehr Anstand, weniger öffentliche Narretei, mehr Noblesse der Gesten angesichts eines horrenden sozialen Ungleichgewichts.(Nebenbei gesagt bedeuten jene lässig provozierten 1000 DM für manchen zwei Monate Arbeitslosengeld. Gar nicht zu reden davon, daß mancher mit den monatlichen Bezügen, mit denen die anmaßende Attitüde eines Günther Krause und die politische Naiv-Kultur einer Sabine Bergmann-Pohl honoriert werden, die nicht zufäll ig auch von erstklassigen individuellen Instinktlosigkeiten begleitet waren, jahrelanges Auskommen hätte.)
Ich möchte noch bei den Komponisten verweilen, jenen, die in der DDR schufen und gar international beträchtliches Ansehen erwarben. Sie werden kaum noch gespielt, was nicht nur psychisch für den Schöpfenden belastend ist, sondern auch sozial gravierende Auswirkungen hat. Daß man sie so sehr vernachlässigt, auch das ist für mich ein Teil dieser verwirrend neuen Welt. Ist das Werte-Bewußtsein der Musikbühnen so korrumpiert, so unsicher, so fahrlässig gehandhabt, daß sie kein Gran Gutes mehr für das empfinden, was sie einst als nützlich, bereichernd, künstlerisch progressiv verteidigten, indem sie es mit höchstem Engagement und Bekenntnis spielten?Schwierige theatralische Übergangsphasen in den neuen Bundesländern lassen sich nicht auf Ewigkeit als solche deklarieren, in denen man dem Publikum vornehmlich mit Gefälligem entgegenkommen möchte. Ich will mich hier nicht als blindgehorsamer Anwalt der Opern aus der DDR (was etwas anderes ist als DDR-Opern) aufspielen, aber es gibt einen Sinn für historische Gerechtigkeit und künstlerische Substanz. Substanz, sei angefügt, die erst manchen Regisseur als Regisseur erkennen und seinen Weg finden ließ. Ich plädiere hier nicht für das Prinzip Dankbarkeit, sondern für das Besinnen auf Werte. Doch ich sehe - außer an der Komischen Oper: »Antigone« von Georg Katzer, in Leipzig: »Nachtwache« von Jörg Herchet, in Cottbus: »Die Salamandrin und die Bildsäule« von Ruth Zechlin, in Eisenach: »Leben lernen« von Bernd Franke - reduziertes Vertrauen in Potenzen von Komponisten, deren internationale Reputation einzig ihrer individuellen Leistungskraft und dem Gewicht ihrer Persönlichkeit, nicht der gehorsamen Anbindung an eine politische Führungspartei und der damit verbundenen bevorzugten Beförderung zu danken ist.
Eingeständnis eines Vorurteils, das ich liebend gern korrigiert sähe: Ich habe augenblicklich nicht den Optimismus, daran zu glauben, daß die neuen »West«Intendanten an den Bühnen der neuen Bundesländer ein herausragendes Interesse für diesen Werk-Bestand aus der alten DDR haben (die eben nicht nur auf den Klassiker Paul Dessau konzentriert war). Gäbe es darunter wenig Herausragendes, erübrigte es sich, hier diese pauschalen Empfehlungen zu geben. (Eine aufschlußreiche Stütze dabei könnte Sigrid Neefs Handbuch der DDR-Oper sein, gewissermaßen ein publizistisches Wende-Opfer: als das druckfertige Manuskript vorlag, wurde es bänglich von einem DDR-Verlag zurückgegeben.) Die Beziehungen zwischen Theater und lebenden Autoren gründen auf einer Abhängigkeit, die über die gegenseitige Einsicht künstlerischer existentieller Notwendigkeit hinausgeht und sich vor allem in der Intensität eines Impulse ausstrahlenden Vertrauens manifestiert. Bei aller Skepsis derzeit: Vielleicht darf man in den Uraufführungen (noch erlebten wir sie nicht ermutigende Zeichen dafür sehen, daß Vertrauen wieder wächst. Und dieses würde nicht nur mich freuen.
Wolfgang Lange
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Entrée | Seite 1 |
Werte, Würde, Werkevon Wolfgang Lange | |
Autoren | Seite 2 |
Impressum | Seite 3 |
Festivals '91 | |
Essen | |
Licht und SchattenEindrücke vom »Theater der Welt« in Essenvon Volker Trauth | Seite 5 |
Offensives Theater gesuchtGespräch mit Börries von Liebermannvon Volker Trauth und Börries von Liebermann | Seite 6 |
Salzburg | |
Vor der Ära Mortiervon Wolfgang Lange | Seite 10 |
Mozarts »Requiem« als Ballett von John Neumeiervon Hartmut Regitz | Seite 12 |
München | Seite 15 |
Possenhaft entschärftvon Wolfgang Lange | |
Wildbad | Seite 17 |
»Semiramide« als Zeichen-Spielvon Hartmut Regitz | |
Bregenz | |
Bregenzer FestspieleZwei Mohren im Schnee: »Soliman« von Ludwig Felsvon Wolfgang Huber-Lang | Seite 18 |
Totalspektakelvon Hartmut Regitz | Seite 19 |
Aix | Seite 21 |
Opern-Festspiele von Aix-en-Provence 1991von Lorenz Tomerius | |
Avignon | |
Der Fall Müllervon Jean Jourdheuil und Jean-François Peyret | Seite 24 |
Heiner Müllervon Martin Linzer | Seite 25 |
Drottningholm | |
Noch ist Östman-ÄraDrottningholm '91von Andreas Kluge | Seite 27 |
Dem Orchester Persönlichkeit verleihenInterview mit Arnold Östmanvon Andreas Kluge und Arnold Östman | Seite 28 |
Oper | |
Tennfjords Falstaff!Deutsche Staatsoper Berlin: »Falstaff« von Verdivon Dieter Kranz | Seite 30 |
Jedenfalls äußerlichVolkstheater Rostock: »Maraaretell« von Gounodvon Veronika Preiß | Seite 31 |
Entleerte Artigkeit, geschönte BrisanzLandestheater Altenburg: »Don Giovanni« von Mozartvon Frank Kämpfer | Seite 31 |
Spiel mit MärchenfigurenStaatstheater am Gärtnerplatz München: »Into The Woods« von Sondheimvon Klaus Eidam | Seite 32 |
Glückliche ReiseHebbeltheater Berlin: »Atlas« von Meredith Monkvon Nora Eckert | Seite 33 |
Alter, todesmüder MannNiedersächsisches Staatstheater Hannover: »Palestrina« von Hans Pfitznervon Wolfgang Lange | Seite 34 |
Tanz | Seite 35 |
Pikante Ballett-MixturKomische Oper Berlin / Tanztheater »Pulcinella« (Strawinskyi / Wandtkel. »Clown Gottes« (Strawinsky / Seyffertl. »Tango« (Piazzolla / Tietböhll. »Bolero« (Ravel / Pöstenyi)von Dietmar Fritzsche | |
Tänzerische WeltuntersuchungenBerlins freie Szene im Ballhaus Kreuzbergvon Volkmar Draeger | |
Tanz | Seite 37 |
Prunk, dann EmotionDeutsche Oper Berlin : »Paquita-Grand Pas« von Ludwig Minkus / Oleg Winogradow / Marius Petipavon Dietmar Fritzsche | |
Formstrenger SakraltanzVolkstheater Rostock: »Saul« von Manfred Schnelle / Händelvon Volkmar Draeger | |
Tanz | |
Menschliche OpfergängeVolkstheater Rostock: »Les Noces« / »Le Sacre du Printemps« von Irene Schneider / Strawinskivon Volkmar Draeger | Seite 38 |
TanzWerkstatt in Streiflichternvon Volkmar Draeger | Seite 40 |
Bühnenbild | |
Zum ersten gesamtdleutschen Quadriennale-Beitrag »Ein Tramn, was sonst« (Kleist, Prinz Friedrich von Homburg, Letzte Szene)von Friedrich Dieckmann | Seite 44 |
War es die letzte?Zur Weltausstellung der Bühnenbildkunst, der Prager Quadriennalevon Ingeborg Pietzsch | Seite 48 |
Nachruf | Seite 50 |
Auf das Puppentheater Berlin (Ost)von Ernst-Frieder Kratochwil | |
Puppentheater | Seite 52 |
Von Puppen und MenschenAstrid Griesbach inszeniert in Frankfurt/Oder Wilhelm Hauffvon Christiane Lange | |
Hantungen sind wichtigGespräch mit Astrid Griesbachvon Christiane Lange | |
Kulturpolitik | Seite 54 |
Mitten in DeutschlandGespräch mit Ulrich Burkhardtvon Wolfgang Lange | |
Inszenierung | |
Der sterbende SchwanWolfgang Engel inszeniert »Stella« von Goethe am Dresdner Staatsschauspielvon Martin Linzer | Seite 58 |
Der Mensch ist des Menschen WolfAm Stuttgarter Staatstheater inszenierte Johann Kresnik Texte aus »Krieg« von Rainald Goetzvon Wolfgang Veit | Seite 60 |
Schauspiel | |
NebensonnenWien / Buratheater: »Penthesilea« von Kleistvon Irene Bazinger | Seite 62 |
Heitere GefühlsverwirrungenMünchen / Kammerspiele: »Stella« von Goethevon Wolfgang Seibel | Seite 62 |
Klangspiele in RollbettenLeipzig / Neue Szene: »Das Geburtstagsbuch« von Gertrude Steinvon Michael Hametner | Seite 63 |
Geschichte lebt und atmetLandestheater Eisenach: »Dantons Tod« von Büchnervon Rainer Junghanß | Seite 64 |
Lehrstück über den GestusWeimar: »Die Zofen« von Jean Genetvon Jörg Mihan | Seite 64 |
Gewagtes ExperimentWien / Volkstheater: »Die Falle« von Rózewicz, Eigeninszenierung der Wiener Festwochenvon Ingeborg Knauth | Seite 65 |
Forcierte KünstlichkeitTheater Dortmund: »Kalldewey Farce« von Botho Straußvon Volker Trauth | Seite 66 |
Polen | |
Auf der SucheBeobachtungen auf dem 29. Festival der polnischen Gegenwartsdramatik in Wroclawvon Ingeborg Knauth | Seite 67 |
Heute Erfolg, und was morgen?XX. Warschauer Theatertreffenvon Jacek Sieradzki | Seite 68 |
Stück | Seite 71 |
King KongoEin Vaudeville für Wolframvon Gaston Salvatore | |
Magazin | Seite 86 |
Opernfestspiele in Heidenheimvon Ingrid Schubert | |
Das umstrittene Geschenkvon Wolfgang Edler | |
Bücher | Seite 87 |
Iise Kobeln (Hg.) / Walter Felsenstein: Theater. Gespräche, Briefe, Dokumente.Mit einem Nachwort von Dietrich Steinbeck. Edition Hentrich, 212 Seiten, sechs Fotoporträts, zahlr. Reproduktionen von Handschriften und Dokumentenvon Uwe Hübner | |
Wilfried Schütze (Hg.) Und jeden Tag Premiere im SchauspieIhaus BerlinFotoreportage von Günter Bersch. Mit einem Essay von Ernst Krause. Henschel Verlag GmbH Berlin 1991, 208 Seiten, 123 Duoton-Fotos, 21 Farbtafeln, 68,- DMvon Uwe Hübner | |
Vorschau | Seite 89 |
Premieren | Seite 90 |
Oktober 1991 | |
Spielpläne | Seite 91 |
Obtober 1991 | |
Besetzungen | Seite 95 |
Irene Bazinger
Friedrich Dieckmann
Volkmar Draeger
Nora Eckert
Wolfgang Edler
Klaus Eidam
Dietmar Fritzsche
Michael Hametner
Wolfgang Huber-Lang
Uwe Hübner
Jean Jourdheuil
Rainer Junghanß
Frank Kämpfer
Andreas Kluge
Ingeborg Knauth
Dieter Kranz
Ernst-Frieder Kratochwil
Christiane Lange
Wolfgang Lange
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