
Heft 07/1999
Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung
Essay von Thomas Ostermeier
Broschur mit 104 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Ende der Frühjahrsmode? Die Waffen schweigen im Kosovo, von Scharmützeln mit fanatisierten Anhängern der verschiedenen Volksgruppen abgesehen, Telefonanrufe erreichen Kollegen in Belgrad wieder in ihren Wohnungen oder Büros, sie konnten die Luftschutzkeller inzwischen verlassen. Herrscht nun wieder Frieden? Oder ist noch Krieg, der doch nie erklärt war, für den es bisher keine Erklärungsmuster im geltenden Völkerrecht gab? Wenn es denn kein "richtiger" Krieg war, gibt es dann einen "richtigen" Frieden? Fragen über Fragen, die uns noch eine Weile beschäftigen werden, nicht nur, bis alle Kosovo-Albaner wieder daheim oder die Verursacher ethnischer Säuberungen politisch abserviert sind. Weshalb wir uns auch nicht - Verfallsdatum hin oder her - von den folgenden Beiträgen verabschiedet haben, die geplant und verfaßt wurden, als noch Bomben auf Belgrad fielen, als noch ethnisch gesäubert wurde.
Eine große Berliner Morgenzeitung vermeldete, mit dem Brustton der Empörung, die Belgrader Autorin Biljana Srbljanoviić ("Belgrader Trilogie", "Familiengeschichten. Belgrad") sei bei einem Besuch in der Bundesrepublik erst vom Fernsehen eingeladen worden, über ihr Theater zu berichten, dann aber wieder ausgeladen worden, weil der Krieg ja inzwischen vorbei sei. Nicht mehr aktuell, nicht mehr quotenträchtig. Die Autorin habe darauf reagiert, für die Medien-Fuzzis seien Leute wie sie "Modelle der gerade abgelaufenen Mode FrühjahrSommer 99". Der Jugo-Look ist passe.
Dieselbe Zeitung ließ gut zwei Wochen früher, die Bomben fielen noch, die Flüchtlinge flohen noch, durch eine ihrer Edelfedern das Theater gemahnen, doch bei seinen Leisten zu bleiben, also gefälligst "Kunst" zu machen, statt sich den Kopf anderer Leute zu zerbrechen, statt mit Aktionen, die auf den Krieg und seine Folgen aufmerksam machen, "vom Pathos der Zeitgeschichte (zu) profitieren, um seine eigene gelegentliche Altjüngferlichkeit etwas aufzuschminken".
Früher, ja früher, in seiner "historischen Epoche", als "Krieg und Wirtschaft noch eins waren" (seit wann sind sie das nicht mehr?), als Theater noch "höfische Repräsentation und frühbürgerliche Öffentlichkeit" war, da hätte Theater - vielleicht noch eine politische Funktion gehabt, die sie in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Arbeitsteilung verloren habe - nun sei "Kunst nur noch Kunst"!
Was immer an Überlegungen über den Wandel der Funktion von Kunst und Gesellschaft bedenkenswert ist, plädieren wir doch dafür, gelegentlich den Zeitgeist in den Ausnahmezustand zu versetzen und ganz altmodisch zu werden. Das Theater muß sicher nicht, wie in seiner "historischen Epoche", "der Religion und Moral zu Willen sein, auch nicht der Politik", aber es muß sich auch nicht, um der Reinheit der "Kunst" willen, von Moral und Politik verabschieden. Auch nicht nach dem 10. Juni 1999.
Was ja nicht bedeuten muß, sich anderen Grabenkriegen nicht zuzuwenden, wie sie etwa auch mit beträchtlichem Medienaufwand in der Berliner Kultur- und Theaterpolitik ausgefochten werden. Statt zu fragen: wann ist Frieden in (Rest)Jugoslawien? kann man durchaus fragen: wie lange hält der designierte Intendant einer Berliner Staatsbühne das gegen ihn geführte nervliche Bombardement aus? Oder: wird ein gerade 70 gewordener Berliner Entertainer in diesem Kontext seinen Alterswunsch realisieren können, doch noch den altersstarren König L. zu spielen? Das sind doch auch virulente Fragen von gewaltiger Relevanz. Oder?
Die Redaktion
Artikel | Seite |
---|---|
Artikel | Seite |
Editorial | Seite 1 |
Ende der Frühjahrsmode? | |
Theater und Krieg | |
Verzweifelte OhnmachtEin Dialog zum Kosovo-Kriegvon Adolf Dresen | Seite 4 |
Theater, visuelle Medien und der Kriegvon Joachim Fiebach | Seite 6 |
Essay | Seite 10 |
Theater im Zeitalter seiner Beschleunigungvon Thomas Ostermeier | |
Gespräch | Seite 16 |
Die australische BauchspeicheldrüseWolfgang Bauer im Gespräch mit Thomas Irmervon Thomas Irmer und Wolfgang Bauer | |
Ausstellung | Seite 20 |
Der zweite Blick durch den eisernen VorhangEine Berliner Ausstellung zum Theatervon Thomas Wieck | |
Werkstatt | Seite 24 |
Potsdamer Geschichten12. Potsdamer Werkstatt-Tagevon Martin Linzer | |
Ausland | |
Die Morgenröte des TheatersDas Mülheimer Theater an der Ruhr in Teheranvon Heinz-Norbert Jocks | Seite 28 |
Reißaus in die VergangenheitNeue ungarische Dramatik in Budapestvon Barbara Engelhardt | Seite 32 |
Freies Theater | |
Theater und immaterielle Arbeitvon Kathrin Tiedemann | Seite 36 |
Koproduktion im DreieckFreie Theaterarbeit - "südöstlich von Berlin"von Michael Freundt | Seite 40 |
Porträt | Seite 44 |
Geschichten der KränkungDer Theatermacher Holger Friedrichvon Kathrin Tiedemann | |
Figurentheater | Seite 48 |
Digitales DurcheinanderDie "Fidena" in Bochumvon Annette Braatz | |
Kindertheater | Seite 52 |
Dreißig Jahre jung: GripsVolker Ludwig im Gespräch mit Ingeborg Pietzschvon Ingeborg Pietzsch und Volker Ludwig | |
Musiktheater | Seite 57 |
Oper, Rette!Zu Richard Strauss' Spätwerkvon Friedrich Dieckmann | |
Auftritt | |
Uraufführung von Edward BondBochumvon Ulrich Deuter | Seite 62 |
"Junge Hunde" auf KampnagelHamburgvon Stefan Grund | Seite 63 |
István Eörsis "Hiob Proben"Wuppertalvon Heinz Kluncker | Seite 64 |
Projektwoche zum Thema "Arbeit"Leipzigvon Evelyn Finger | Seite 65 |
Zwischenbilanz der NeuerungsphaseOsnabrückvon Terry Albrecht | Seite 66 |
Kresnik mit Kraus im BunkerBremenvon Matthias Schmidt | Seite 68 |
Neues Musiktheater bei der BiennaleMünchenvon Herbert Glossner | Seite 69 |
Französische "Perspectives"Saarbrückenvon Adrienne Braun | Seite 71 |
Festivalehrgeiz und AlltagKonstanzvon Bodo Blitz | Seite 72 |
Moritz Rinkes "Männer und Frauen" uraufgeführtHannovervon Michael Quasthoff | Seite 74 |
5. Kinder- und JugendtheatertreffenBerlinvon Ingeborg Pietzsch | Seite 75 |
Trilogie am Theater Junge GenerationDresdenvon Jörg Mihan | Seite 76 |
"Der Weg der Verheißung" von Kurt WeillChemnitzvon Nora Eckert | Seite 78 |
"Orestie", verrocktMemmingenvon Manfred Jahnke | Seite 79 |
Albert Ostermeiers "The making Of. B-Movie"Münchenvon Helmut Krausser | Seite 80 |
Zweimal "Salomé" von Richard StraussFrankfurt / Grazvon Nora Eckert | Seite 81 |
Premierenkalender | Seite 84 |
Premieren im Juli und August | |
Stück | Seite 86 |
BERLIN UNDERGROUNDvon Dominik Armin Finkelde | |
Magazin | |
In vier Tagen um die ganze WeltNeue französische Dramatik III in der Baracke des Deutschen Theatersvon Anja Dürrschmidt | Seite 99 |
"reich & berühmt":Das POPkartell oder Vor zwei Jahren wäre das gut gewesenvon Mario Stumpfe | Seite 99 |
Neue Herren an Rhein und RuhrEindrücke vom Off-Theater-Symposium "off limits II"von Tom Mustroph | Seite 100 |
KachelhautEine Installation und Performance von Angie Hiesl in der Münchner Unterführung Maxtransitvon Erika Wäcker | Seite 101 |
Achselzucken auf der ersten Deutschen Theatermesse in Dresdenvon Katharina Holler | Seite 101 |
BücherTheaterjahr 1999/36. Theatertreffen Berlin. Prestel-Verlag, München/London/New York 1999, 200 S.von Martin Linzer | Seite 102 |
BücherPetra Stuber: Spielräume und Grenzen / Studien zum DDR-Theater. Ch. Links Verlag, Berlin 1998, 404 S.von Martin Linzer | Seite 102 |
BücherManfred Zelt: Morgen war Premiere / Schweriner Theatergeschichten, Demmler-Verlag, Schwerin 1999, 240 S.von Martin Linzer | Seite 102 |
Kolumne | Seite 103 |
Autoren | Seite 104 |
Impressum | Seite 104 |
Terry Albrecht
Wolfgang Bauer
Bodo Blitz
Annette Braatz
Adrienne Braun
Ulrich Deuter
Friedrich Dieckmann
Adolf Dresen
Anja Dürrschmidt
Nora Eckert
Barbara Engelhardt
Joachim Fiebach
Evelyn Finger
Dominik Armin Finkelde
Michael Freundt
Herbert Glossner
Stefan Grund
Katharina Holler
Thomas Irmer
Manfred Jahnke
Heinz-Norbert Jocks
Heinz Kluncker
Helmut Krausser
Martin Linzer
Volker Ludwig
Jörg Mihan
Tom Mustroph
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