
Kolumne
Warum die Kritik an „kultureller Aneignung“ in Aberwitz verdampft
von Ralph Hammerthaler
Einmal hab ich mir eine fremde Sprache angeeignet, das Spanische, weil ich mit Menschen in Mexiko und Kolumbien direkt sprechen wollte, ohne aufs Englische auszuweichen. Und weil ich Bolaño im Original lesen wollte. Irgendwann hat es leidlich geklappt. Als sie „Schnappräuber“ in Mexico City aufführten, hielt ich in der Universität einen Vortrag, über mein Stück und Tendenzen der deutschen Dramatik. Ich sprach auf Spanisch, was, wenn auch nicht perfekt, gut ankam. Nicht ganz so gut an kam mein hochspanisches Lispeln, das ich damals dynamisch fand. Danach flüsterte mir mein Regisseur ins Ohr: So klingt die Sprache der Kolonisatoren.
Für meinen Roman „Kosovos Töchter“ hab ich monatelang auf dem Balkan recherchiert. Überwiegend sprach ich mit Frauen, jungen und alten, zumeist Feministinnen, aber auch mit deutschen Soldaten oder dem Politiker Albin Kurti, dem Rudi Dutschke Kosovos. Zu diesem Romanprojekt hat mich, was gar nicht nötig gewesen wäre, mein albanischer Freund Besim immer wieder ermuntert. Vielleicht, sagte er, siehst du etwas, was wir in Kosovo nicht sehen. Könnte gut sein. Aber wer weiß. In Prishtina lief auf der Leinwand ein Fußballspiel, und junge Männer trugen Trikots des FC Bayern München. Frage an alle: Wer ist der Fremde?
So gesehen müsste mich der Vorwurf der „kulturellen Aneignung“ ins Mark treffen. Aber erstens ist schon der Begriff falsch, weil in den fluiden Kulturen der Welt kein Eigentum übertragen werden kann, und zweitens wird der Vorwurf vom Popanz…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 4/2021

Thema
Überlegungen zur neuen Präsentation der Puppentheatersammlung Dresden
von Kathi Loch
Ende 2022 wird die Puppentheatersammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) ihr neues Domizil in einem ehemaligen Heizkraftwerk in der Dresdner Innenstadt beziehen und voraussichtlich ab Herbst 2023 dort Ausstellungen präsentieren. Dr. Kathi Loch betreut als Projektleiterin alle kreativen, kommunikativen und organisatorischen Prozesse rund um diesen Umzug und fragt, inwiefern der „Neustart“ genutzt werden kann, um vielfältige Barrieren abzubauen.
Die Zukunft verspricht Sichtbarkeit und Zugänglichkeit: In der Südfassade des „Lichtwerks“ im Dresdner Kulturareal „Kraftwerk Mitte“ klafft ein Tor von fast sieben Metern Breite und zehn Metern Höhe, ursprünglich verschlossen durch eine bewegliche Stahlwand. Diese wurde inzwischen herausgefahren und an ihrer Stelle werden bald eine große Glasfront und, auf Straßenniveau, ein Windfang eingebaut. Das Portal am neuen Standort: monumental, transparent, nicht zu übersehen. Das sind also gute Aussichten für eine Sammlung, von der in den letzten Jahren nur Bruchteile der Öffentlichkeit präsentiert werden konnten. Doch ist es mit einer willkommen heißenden Eingangssituation schon getan?
Barrierearmut in Architektur und Ausstellung
Es wäre schön, wenn die Puppentheatersammlung im Kraftwerk Mitte ein inklusiver Ort mit möglichst wenigen Barrieren sein könnte. Aber machen wir uns nichts vor: Barrierefreiheit ist eine Utopie und selbst die Schaffung von Barrierearmut wird für uns Planer*innen, Gestalter*innen,…mehr
aus der Zeitschrift: double 43

Magazin
Das digitale Brechtfestival 2021 in Augsburg stellt die Frauen in den Vordergrund, die zeitlebens mit Bertolt Brecht gearbeitet haben
von Christoph Leibold
„Ich glaube, dass Du ein wenig betrübt bist, weil auf dem Theater nichts los ist“, schrieb Bertolt Brecht 1933 aus der Schweiz an Helene Weigel. Die Nazis hatten die Macht ergriffen, Brecht ging ins Exil. Heute sorgt Corona für Betrübnis, dass auf dem Theater nichts los ist. Für das Augsburger Brechtfestival 2021 lasen Charly Hübner und Lina Beckmann ausgewählte Passagen aus dem Briefwechsel zwischen Brecht und Weigel, vorzugsweise Texte, die in pandemischen Zeiten aufhorchen ließen. Da gibt es Erheiterndes, etwa wenn sich Brecht Zigarren der Marke Corona wünscht oder wenn er in der Schweiz aus Carona (!) schreibt, aber vor allem Ernstes, wenn er berichtet, wie ihn eine Grippe plagt oder Helene Weigel Bedenken wegen seiner Nähe zu Margarete Steffin anmeldet. Neben Eifersucht dürfte sie dabei die Sorge vor einer Ansteckung umgetrieben haben. Steffin litt an TBC.
„HelliBert und PandeMia“ hieß der Festivalbeitrag von Beckmann/Hübner, ein gut halbstündiger Film, in dem das Schauspielerehepaar die Korrespondenz aus dem Off vorträgt, in nüchternem Chronisten-Ton, dazu laufen Bilder (von Hübner selbst schwarz-weiß gedreht und mit Flackereffekten auf historische Anmutung getrimmt) aus dem winterlich verwaisten Hamburg. Nix los im Lockdown, nirgends. Auch nicht im Deutschen Schauspielhaus, wo Beckmann und Hübner engagiert sind und auf das die Kamera aus wehmütiger Distanz blickt.
Es ist ein bisschen heikel, wie hier die Verbannung heutiger Kulturschaffender von ihren…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 4/2021

Look Out
Das Bochumer Kollektiv Anna Kpok befragt die Welt mittels digitaler Verfremdung
von Sascha Westphal
Der Lockdown macht gezwungenermaßen erfinderisch. Wenn wir schon nicht in einem Saal zusammenkommen können, dann müssen andere Wege beschritten werden, um ein Gefühl von Gemeinschaft zu erzeugen. Einen faszinierenden Weg, das zu erreichen, hat das freie Theaterkollektiv Anna Kpok mit der Online-Gaming-Performance „Anna Kpok und die Dinge aus einer anderen Zeit“ gefunden. Entstanden im ersten Lockdown im Frühjahr 2020, ermöglicht dieses zuletzt über die Schaubude Berlin präsentierte Text-Adventure sechs Spielerinnen und Spielern, die sich in einer Zoom-Konferenz treffen, die Detektivin Anna Kpok auf ihrem Weg durch ein weitgehend verlassenes Mülheim an der Ruhr zu navigieren.
Die sechs Teilnehmerinnen, die jeweils in Zweierkonstellationen gemeinsam spielen, tauchen mittels der Texte, die auf ihren Bildschirmen erscheinen und zugleich von einer Frauenstimme vorgetragen werden, in eine surreale Welt ein, die ebenso an Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ wie an klassische Science-Fiction-Storys erinnert. Wie bei den in den 1980ern populären interaktiven „Spielbüchern“ müssen die Spielerinnen und Spieler bei „Anna Kpok und die Dinge aus einer anderen Zeit“ entscheiden, welchen Weg sie für ihre Heldin wählen. Jede Entscheidung fächert die Geschichte weiter auf und beleuchtet einen weiteren Ausschnitt des Spielkosmos, den man doch nie ganz erkunden kann.
Da immer zwei Personen gemeinsam entscheiden müssen, entwickelt das Spiel noch eine weitere Dimension. Es entsteht ein…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2021

Look Out
Das Berliner Duo cmd+c durchleuchtet mit den Mitteln der „Transkunst“ Themen wie Machtmissbrauch im Theater
von Paula Perschke
cmd+c [Marina Prados (l.) und Paula Knüpling]. Foto: Lilli Emilia.
2019 sprüht eine unbekannte Person auf eine Mauer der Garnisonkirche in Potsdam ein Graffiti, auf dem eine Frau die Sterne der EU verwischt. Kurz darauf wird die Performerin Paula Knüpling wegen „Hausfriedensbruch“ und „Zerstörung öffentlichen Eigentums“ verhaftet. Eine wahre Geschichte?
Für das Berliner Künstlerinnenduo cmd+c jedenfalls ist sie eine perfekte Vorlage, um daraus einen Theaterabend zu entwerfen, der schließlich als eine Art Lecture Performance unter dem Titel „Single Lives As Single Wants“ an der Berliner Schaubude zu sehen war. „Man kann die Kunst nicht von der Künstlerin trennen“, sagt Paula Knüpling mit Überzeugung. Gemeinsam mit ihrer Partnerin Marina Prados bildet sie die Theaterkompanie cmd+c, welche nach Grenzen von Fiktion und Realität, nach persönlichen Erfahrungen und Lebensutopien sucht. Das junge Künstlerinnenpaar lernte sich 2016 im Jugendtheater der Berliner Volksbühne P14 kennen. Der Funke sprang schnell über – im Privaten wie auch in Bezug auf das gemeinsame Verständnis von Kunst. Knüpling wurde 1995 in Berlin geboren und war bislang als Schauspielerin an der Volksbühne zu erleben (unter anderem in „Die 120 Tage von Sodom“ in der Regie von Johann Kresnik sowie bei P14). 2019 debütierte sie mit einer Hauptrolle im Spielfilm „Heute oder morgen“ (Regie Thomas Moritz Helm). Prados wurde 1994 in Barcelona geboren und studierte dort Schauspiel an der Escola Superior d’Art…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2021

Gespräch
von Sabine Leucht und Peter Schneider
Peter Schneider, wie Ihre Kollegin Julischka Eichel haben auch Sie in einem Brandbrief auf die schwierige Lage freischaffender Schauspieler aufmerksam gemacht. Warum ist sie so besonders kompliziert?
Weil wir sozialversicherungsrechtlich zwischen zwei Welten schweben. Ein Großteil der freischaffenden Schauspieler ist nicht soloselbstständig, sondern immer nur kurzfristig beziehungsweise unständig bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt. Dadurch können wir uns in den seltensten Fällen einen Anspruch auf ALG1 erarbeiten, denn dafür müsste man auf 360 versicherte Tage innerhalb von zwei Jahren kommen. Und das schafft kaum jemand, der als Gast am Theater arbeitet. Selbst wenn man beispielsweise mit 80 versicherten Tagen im Jahr verhältnismäßig viel dreht, wäre man 280 Tage lang nicht versichert. In diesen Zwischenzeiten haben wir in der Krankenversicherung die gleichen Kosten wie ein selbstständiger Handwerker zu tragen, aber in der Regel kein Einkommen. In die Renten- und Arbeitslosenversicherung wird in dieser Zeit meist gar nichts eingezahlt.
In die Künstlersozialkasse kommen Sie nicht?
Nein, das wäre das System, das für uns zuständig wäre, wenn wir selbstständig agieren und Rechnungen schreiben dürften. Wir wären dann das ganze Jahr durchversichert, und unsere Zahlungen plus die staatlichen Zahlungen der „Arbeitgeberanteile“ würden auch die Lücken in der Rentenversicherung schließen, die dazu führen, dass man als freischaffender Schauspieler oft noch nicht mal…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2021

Künstlerinsert
Die Münchner Künstlerin Miriam Ferstl fotografiert Kronleuchter in Kirchen und Theatern – und öffnet damit den Blick auf verborgene Verbindungen zwischen Spiritualität, Kunst und Naturwissenschaft
von Sabine Leucht
Man kann heute kaum auf diese Bilder blicken, ohne an Covid-19 zu denken. Oder – je nach Gemüt – auch an kolorierte Spitzendeckchen. Eigentlich aber fotografiert Miriam Ferstl Leuchter in sakralen Räumen und Theatern. Denn da hat die 34-Jährige ihre künstlerischen Wurzeln. Ferstl ist 1986 im 5000-Seelen-Ort Oberviechtach geboren und hat in Bayreuth unter anderem Theaterwissenschaft studiert, bevor sie 2009 am Schauspielhaus Bochum von der Kleindarstellerin zur Requisiteurin zur dramaturgischen Assistentin aufstieg. Dann folgte in dem, was sie ihr „erstes Leben“ nennt, die Arbeit beim Film und in der „Tatort“-Redaktion des Bayerischen Fernsehens – und schließlich der 31. Juli 2016, als ihr in Supetar auf der kroatischen Insel Brač ein Kronleuchter begegnete: Ein in vielerlei Hinsicht bahnbrechendes Erlebnis! Da war der Kontrast zwischen dem heruntergekommenen Kirchenraum und dem riesigen Kristalllüster, dessen ungewohnt lebensfrohe Farbigkeit mit der Deckenbemalung korrespondierte. Da traf die venezianische Vergangenheit der Insel in Gestalt des bunten Murano-Glases auf die angeborene Glasfaszination der im Bayerischen Wald aufgewachsenen jungen Frau. Und die hatte dann noch die schräge Idee, sich das Ganze von unten anzuschauen, während sie selbst flach auf dem Kirchenboden liegt.
Wenn Miriam Ferstl vier Jahre später davon erzählt, klingt sie noch immer überwältigt von der Entdeckung der Abstraktion, die das mit sich bringt. Und oft geht es den Pfarrern und…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2021

Look Out
Das österreichische Performancekollektiv Nesterval verstrickt sein Publikum in kluge Mitbestimmungsspiele
von Theresa Schütz
Man könnte das seit 2010 aktive und in Wien ansässige queere Performancekollektiv Nesterval durchaus als einen der ganz wenigen Gewinner der Corona-Krise unter den Kunstschaffenden bezeichnen. Im Pandemiejahr 2020 erhalten sie für ihre Produktion „Der Kreisky-Test“, die analog geplant war und dann als eine der ersten „Stay at home“-Performances im April via Zoom Premiere feierte, den Nestroypreis in der Kategorie „Corona-Spezialpreis“. Noch im vergangenen November legte das vor Kreativität strotzende Kollektiv mit „Goodbye Kreisky“ eine Fortsetzung jener partizipativen Online-Performance um eine alternative sozialistische Gemeinschaft im Wiener Untergrund vor, die den Erstling technisch und ästhetisch sogar noch zu toppen vermochte.
Frau (Teresa) Löfberg und Herr (Martin) Finnland, die beiden künstlerischen Köpfe des Kollektivs, versammeln für ihre Produktionen ein Ensemble von bis zu 30 professionellen wie Laien-Darstellerinnen und -Darstellern. Zu ihren Markenzeichen gehören erstens die narrative Rahmung ihrer Stoffe als Geschichte(n) der namengebenden, fiktiven deutsch-österreichischen Familiendynastie Nesterval; zweitens die Entwicklung dezidiert spielförmiger Theaterformate, die von Schnitzeljagden im Stadtraum bis zu interaktiven Performance-Installationen reichen, und drittens Gender-Fluidität, die sich auf den Ebenen der Besetzung und Figurenentwicklung bis hin zu Darstellungsweisen erstreckt.
Darüber hinaus kombiniert Nesterval häufig klassische Stoffe mit…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2021
Gespräch
von Tom Mustroph und Angela Richter
Angela Richter, wann haben Sie Julian Assange das letzte Mal gesehen, und unter welchen Bedingungen?
Das war im Dezember 2019, in der ecuadorianischen Botschaft, etwa vier Monate vor seiner Verhaftung. Er war in einem elenden, schockierenden physischen Zustand. Im Belmarsh-Gefängnis, in dem er jetzt ist, sind die Bedingungen ebenfalls hart, wie ich aus seinem Umfeld erfahren habe. Die Heizungsanlage setzt aus, wenn die Temperaturen unter null Grad gehen. Also stopft er alle seine Bücher in die Fenster, um so die Kälte draußen zu halten.
Das Londoner Gericht hat entschieden, dass er nicht in die Vereinigten Staaten ausgeliefert werden darf. Ist das ein Sieg, ein halber Sieg oder ein Pyrrhussieg?
Es ist ein toxisches Urteil. Aus der Sicht der Richterin ist es sehr clever. Sie hat den USA in allen Punkten Recht gegeben und gleichzeitig gesagt, er könne nicht in die USA ausgeliefert werden, weil er im dortigen Supermax-Gefängnissystem selbstmordgefährdet sei. Das hat sie im Prozess auch ausführlich dargelegt. Für den Journalismus ist es aber eine Katastrophe, weil damit der investigative Journalismus kriminalisiert wird. Es ist das erste Mal, dass ein Journalist auf der Grundlage des Espionage Acts angeklagt wird.
Der 1917 in Kraft getretene Espionage Act wurde zunächst herangezogen, um damalige Gewerkschafter und sozialistische Politiker in den USA vor Gericht zu bringen. In den letzten Jahren wurden vor allem Whistleblower angeklagt wie die NSA-Aussteiger Edward…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2021

Kolumne
Wie der Regisseur Visar Morina von der Einsamkeit erzählt
von Ralph Hammerthaler
Applaus tut gut, aber nicht immer. Die demütigendste Art des Applaudierens habe ich in Visar Morinas Film „Exil“ gesehen, als der Beifall von Kollegen über den aus Kosovo stammenden Ingenieur Xhafer niedergeht. Seit einiger Zeit schon hat Xhafer den Eindruck, dass in der Firma alles gegen ihn läuft, ja, dass er gemobbt wird. Woher kommen Sie, aus Kroatien?, fragen sie immer wieder. Und auch der Chef fragt ihn danach, ehe er seine selbstgefällig weltläufige Rede mit einer Pointe versieht. Die Pointe heißt Xhafer. Darauf klatschen sie alle, ganz so, als würden sie ihn trocken schnalzend auspeitschen.
Geht es Ihnen gut? Geht es Ihnen wirklich gut? Nach und nach befallen Xhafer Zweifel. Einmal, auf einem Filmfestival, sagt Visar, hat ein mächtiger Fernsehmensch einen Schauspieler mit den Worten begrüßt: Na, wieder nüchtern? Der Schauspieler wusste nicht, was das sollte. Und jetzt stell dir vor, du würdest dasselbe dreimal am Tag gefragt. Na, wieder nüchtern? Da würdest auch du anfangen zu zweifeln, und zwar an dir selbst.
Eigentlich wollte ich Visar zu einem Spaziergang überreden. Weil sich so das Gespräch von selbst ergeben hätte. Aber dann stellte sich heraus, dass er bereits in München war, um in den Kammerspielen die Uraufführung von „Flüstern in stehenden Zügen“ zu inszenieren, das neue Stück von Clemens J. Setz. Jetzt haben sie sich also, sag ich mir, einen Filmregisseur geangelt, obwohl ich weiß, dass ihm das Theater nicht fremd ist. An der Berliner Volksbühne…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2021

Magazin
Revolution und Zweifel – Die wunderbar anarchische Webserie „Rosa Kollektiv Oder: Aktiviere dein inneres Proletariat“ von Christian Filips und Luise Meier
von Erik Zielke
Theater ist oft gnadenlos. Etwa in seiner Vergesslichkeit. Nicht erst seit Heiner Müller ist klar, dass dramatische Kunst aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit resultiert, und doch verkommt das Theatererlebnis oft zu bloßer Gegenwart, die auch ein mangelndes Gedächtnis bedeutet. Was bleibt vom Theater des 20. Jahrhunderts und seiner Akteure jenseits der großen Namen?
Armand Gatti (1924–2017) zum Beispiel, der aus Frankreich stammende antifaschistische Dramatiker, ist verschwunden von den Bühnen, die ihm im deutschsprachigen Raum ohnehin schwer zugänglich waren. Umso erfreulicher, dass Gattis Stück „Rosa Kollektiv“ (1973) wieder ins Gedächtnis zurückgerufen wird. Ein ebensolches Rosa Kollektiv hat sich formiert um den Regisseur Christian Filips und die Autorin Luise Meier, das kämpferische Werk an dem Ort zu zeigen, wo es gespielt gehört: in der Volksbühne Berlin, die ehemals den Hinweis „am Rosa-Luxemburg-Platz“ im Namen trug. Unter dem vielsagenden Titel „Rosa Kollektiv Oder: Aktiviere dein inneres Proletariat“ nimmt die anarchische Volksbühnenarbeit ihren Lauf.
In Gattis Stück geht ein Kollektiv der Frage nach, wie man eine Fernsehserie über Rosa Luxemburg machen könnte, die schließlich der gegensätzlichen Positionen wegen nicht zustande kommt. Nicht ganz unironisch kann die Arbeit von Filips coronabedingt nicht pünktlich zu Luxemburgs 150. Geburtstag am 5. März auf die Bühne kommen. Dafür wird nun der Stoff über das gescheiterte Fernsehspiel als Webserie…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2021

Look Out
Die Berliner Schauspielerin Vidina Popov kann über furchtbare Dinge lachen und wirft sich mit Wucht ins Unbekannte
von Paula Perschke
Es scheint auf dieser Welt nichts zu geben, was Vidina Popov zurückhalten kann. Vor allem auf der Bühne ist das unverkennbar. Ob als hyperventilierender Clown in Heiner Müllers „Herzstück“, als Hauptfigur in Simon Stephens’ „Maria“ oder grau in grau integriert in ein polyfones, einheitliches Schauspielerinnenquartett in „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“ von Sibylle Berg. Popov versprüht eine derart unterhaltsame Energie, die zweifelsohne im Gedächtnis bleibt. Die 28-jährige Schauspielerin ist nicht nur kraftvoll und euphorisch, ihr fallen am laufenden Band Dinge ein, die sie in ihrem Leben noch tun oder von denen sie noch erzählen will. Ihre künstlerische Laufbahn lässt vermuten, sie hätte schon dreimal gelebt oder hat mindestens eine Doppelgängerin.
Popovs Schauspielkarriere beginnt früh: Als Tochter bulgarischer Eltern wird sie in Wien geboren und besucht dort eine bulgarische Schule. Da sie schon als Kind keine Scheu an den Tag legt, auf andere zuzugehen und diese schnell von ihren Unterhaltungskünsten überzeugen kann, wird sie als Moderatorin für Schulfeste eingesetzt. Eine Regieassistentin des Wiener Volkstheaters wird dabei auf die damals Achtjährige aufmerksam und schlägt sie für die Rolle der Tochter in Federico García Lorcas „Mariana Pineda“ vor. Danach geht es zum Fernsehen, als Moderatorin des Kindersenders Confetti TiVi. Als das Leben ernster wird, studiert sie Jura, bricht das Ganze aber schnell wieder ab, um am Salzburger Mozarteum…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 1/2021
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Abschied
Zum Tod von Peter Radtke – Schauspieler und Aktivist avant la lettre
von Gerd Hartmann
„Brigitte Bardot wurde nicht wegen ihrer Intelligenz besetzt, sondern wegen anderer Qualitäten. Und auch ich werde nicht besetzt, weil ich ein netter Kerl bin, sondern wegen meiner Körperlichkeit. Damit muss ich leben.“ Klingt in Zeiten hoher Sprachsensibilität ein bisschen anrüchig. Aber die Aussage stammt von Peter Radtke. 1943 mit Glasknochenkrankheit geboren, Schauspieler, Regisseur, Autor, Rollstuhlfahrer, Aktivist zu Zeiten, als es das Wort noch gar nicht gab. Da kriegen die Sätze eine andere Dimension. 1995 diktierte er sie mir in den Block. Ich habe sie später oft zitiert – als Theatermacher beim inklusiven Berliner Theater Thikwa, wenn Publikumsdiskussionen mal wieder in mitfühlend nivellierende Großumarmungen mündeten mit dem Tenor, dass wir doch alle ein bisschen behindert seien.
Peter Radtke war nicht provokativ, er war klar. Was manchmal dasselbe sein kann. Er lebte Selbstbestimmung vor, als Menschen mit Behinderung außerhalb der TV-Lotterieshows der „Aktion Sorgenkind“ (so hieß die „Aktion Mensch“ noch bis ins Jahr 2000) im öffentlichen Leben nicht vorkamen. Nicht als ernst zu nehmende Diskurspartner und noch viel weniger als Künstlerinnen und Künstler. Peter Radtke hat beides geändert. Kämpferisch und beharrlich. Er studierte Romanistik und Germanistik, beileibe keine Selbstverständlichkeit für einen schwerbehinderten Menschen in den 1970ern. Immer unterstützt von seinen Eltern – der Vater Schauspieler, die Mutter Krankenschwester. Das hat er immer…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 1/2021

Gespräch
von Michel Brandt und Elisabeth Maier
Herr Brandt, erst kürzlich wurde entschieden, dass der Generalintendant des Staatstheaters Karlsruhe, Peter Spuhler, im Herbst 2021 sein Amt aufgeben soll. Die Konflikte mit ihm schwelen seit Langem. 2015 gab es bereits eine Mediation. Sie selbst waren als Schauspieler seit 2014 im Personalrat. Gab es denn keine Möglichkeit, die für die Künstlerinnen und Künstler so schwierige Situation früher gemeinsam mit dem Intendanten zu lösen oder, wie nun geschehen, durch einen öffentlichen Protest zu beenden?
Es hätte Möglichkeiten gegeben, wesentlich früher einzugreifen. Das Problem ist, dass wir beim Verwaltungsrat immer auf taube Ohren gestoßen sind. Bis zum Schluss gab es für Peter Spuhler eine große politische Rückendeckung. Zunehmend hat sich am Haus Verzweiflung breitgemacht, weil sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht gehört fühlten – und weil auch der Protest, den es ja 2015 schon gab, im Sande verlaufen ist. Die Vereinbarung, die man damals über eine Mediation traf, hat gar nichts an der Situation der Beschäftigten geändert. Umso erstaunlicher ist es, dass Karlsruhes Oberbürgermeister Frank Mentrup bis jetzt behauptet, er habe von den Vorwürfen nichts gewusst. Das ist falsch. Als er 2016 bei uns im Personalrat zu Gast war, haben wir ihm die Lage sehr deutlich geschildert. Wir haben sogar Stundenzettel vorgelegt. Deshalb wurde die Verzweiflung am Haus immer größer. Der Verwaltungsrat hat alles gedeckt, da gab es keinerlei kritische Stimmen.
Noch in diesem…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 1/2021