
Magazin
Am Teatr Współczesny in Szczecin sorgt eine neue Truppe für Aufsehen in Polen
von Thomas Irmer
„Edukacja Seksualna“ heißt das Stück von Michał Buszewicz, das in Polen ein per Gesetz neuerdings verbotenes Schulfach adressiert. Denn die Sexualerziehung wurde von der nationalkonservativen PiS-Regierung an Schulen abgeschafft, fast im gleichen Atemzug, in dem sie das Abtreibungsrecht praktisch bis auf ganz wenige Ausnahmen aufhob. Eine offenbar panische Angst vor der Darstellung von Sexualbeziehungen in differenzierteren Geschlechterverhältnissen trieb die in diesem Punkt antiliberale Kaczynski-Partei in die weitere Spaltung der Gesellschaft, mit der katholischen Kirche im Hintergrund und dazu traditionsfremden Ideen überhaupt.
Die Inszenierung in der Regie des Autors ist eine lockere Szenenfolge ohne jeglich explizite Darstellungen, als Revue des „Entschämens“ dieses Themas. Das Besondere ist vielleicht gar nicht so sehr die pädagogische Aufklärung von Jugendlichen, sondern dass Sex auch für Erwachsene ein schwieriges soziales Problem bleiben kann, jenseits von Beziehungshändel und Pornoeinsamkeit. Fast immer zeigt es Dialoge mit Ende unbekannt – oder eben zum Weiterführen auffordernd. Angeboten wird das Stück für Schüler:innen ab 15 und ist vom Bürgermeister von Szczecin eigens abgesegnet. Der gehört der PO (Bürgerplattform) an und unterläuft damit die Volkserziehung der Regierenden in Warschau. Es ist der in Polens Kultur nicht untypische Konflikt zwischen der Landesregierung und den in vielen großen Städten auch für die Kultur verantwortlichen liberalen…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 6/2022

Protagonisten
Berlin, Mannheim, Weimar: Christian Weise inszeniert die Welt als Bühne und die Bühne als eigene Welt
von Michael Helbing
Christian Weise sitzt Anfang April im Nationaltheater Weimar und kriegt die Krise. Zum einen, da ihm soeben mal wieder seine „Buddenbrooks“-Premiere platzte, die in der Pandemie schon mehrfach ausgebremst wurde und nun einiger Corona-Fälle im Ensemble wegen erneut auf unbestimmte Zeit gleichsam in Quarantäne geschickt wird. Zum anderen, da ein TdZ-Gespräch über Shakespeare, das sich anstatt einer Endprobe ereignet, unweigerlich zur Rezeption seiner „Queen Lear“ gelangt, die im Februar mit Corinna Harfouch in der Titelrolle am Berliner Gorki-Theater herauskam, nachdem man auch dort mit dem Virus arg zu kämpfen hatte.
Von Albernheiten und Blödeleien war nicht zum ersten Mal in Kritiken zu lesen, mit denen Weise demnach die poetische Fallhöhe Shakespeare’scher Lebens- und Liebeskrisen wahlweise unterläuft oder zudeckt. Und von: Klamauk. „Ich hasse diese falsche Benutzung des Wortes“, bricht es aus dem Regisseur heraus. „Herbert Fritsch macht Klamauk, und zwar als große Kunstform! Laurel und Hardy haben Klamauk gemacht. Ich kann so was gar nicht!“ Ein anderes „Lieblingsschimpfwort“ für seine Inszenierungen: Trash. „Es gibt großartige Trash-Künstler!“ Er zählt sich aber keineswegs dazu.
Weise nähert sich einem Shakespeare-Stück eben nur komödiantisch, schon deshalb, weil ihm das ganze Leben wie eine Komödie vorkommt („Wenn ich in der S-Bahn sitze, muss ich lachen.“). Außerdem wollen die Leute doch unterhalten werden; das war im Globe Theatre auch nicht anders.
Dabei…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 6/2022

digitalität und theater I
Ein Essay
von Jonas Zipf
Nehmen wir einmal an, Kultur bestünde aus mehr als der künstlerischen Praxis auf Bühnen und Leinwänden, in Galerien oder Museen. Nehmen wir außerdem an, ein so verstandener sogenannter breiter Kulturbegriff ist der Boden und das Bett einer jeden grundlegenden Transformation der Verhältnisse. Wir sprächen dann von einem Kulturwandel und meinten etwa die Kultur eines Unternehmens oder des politischen Diskurses, des schulischen Sektors oder der Geschlechterverhältnisse. Gehen wir also davon aus, dass jede Transformation mit einem Wandel der sozialen, ökonomischen, ökologischen Kultur einher-, möglicherweise sogar von dieser ausgeht. Ob groß oder klein, geschichtlich abgeschlossen oder in die Zukunft laufend: Die Felder der uns aktuell umströmenden Transformationen wären also per se und a fortiori Schauplätze, öffentliche und soziale Räume der Kultur. So ist es mit den Fragen nach Nachhaltigkeit oder in der Inklusion. So ist es mit der Digitalisierung.
Weniger „Mega“ als vielmehr „Meta“, müssen wir Digitalisierung endlich als kulturellen Wandel der Art und Weise unseres kommunikativen Handelns, eines gänzlich veränderten Mindsets des Umgangs miteinander und nebeneinander verstehen. Digitalisierung ist kein Megatrend, der unvermeidlich über uns kommt wie ein heilsbringendes Himmelreich oder die nächste Naturkatastrophe. Es lohnt sich nicht mehr, sich an das Narrativ der fehlenden Ressourcen und Kompetenzen zu klammern, die wie ein Hüter vor der Schwelle eines erst…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 6/2022

Magazin
Ein Drama-Showcase des Centro Dramático Nacional in Madrid
von Thomas Irmer
Spanien ist dieses Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Was das Theater und insbesondere die zeitgenössische spanische Dramatik angeht, ist die Kenntnis hier relativ gering. Aber das könnte sich nun ändern. Der Heidelberger Stückemarkt (siehe S. 80) hat gleichfalls Spanien zu Gast, und das Centro Dramático Nacional (CDN), eine Art reformiertes Nationaltheater mit zwei Bühnen im Zentrum der Hauptstadt, bemüht sich um eine systematische Förderung von jungen Autoren. Dazu gehören seit 2020 Residenzen mit Workshop-Entwicklungen und in der jüngsten Ausgabe der eigenen Zeitschrift Dramática eine Bestandsaufnahme zur neuen Dramatik mit einer katalogartigen Darstellung von beachtlichen „75 Dramatiker:innen für das 21. Jahrhundert“. Ihr Herausgeber, der CDN-Produzent Fernando Sánchez-Cabenado, schätzt den Moment als äußerst günstig für neue Autoren im Theater ein, wie auch die stellvertretende Direktorin Fefa Noia, die sich für die Fortführung der Autorenresidenzen stark macht. Es gibt Themen, die brennen, wie die langen Schatten der Franco-Diktatur, die nun fast fünfzig Jahre nach deren Ende vor allem in Familiengeschichten aufgearbeitet werden. Auch die kulturellen Autonomiebestrebungen der einzelnen Regionen des Landes sind ein Thema und selbstverständlich der Blick auf neue soziale Phänomene.
Dass Behinderte ihre Sexualität leben wollen und ihnen dabei vielleicht geholfen werden müsste, ist auch in Spanien fast ein Tabu. Esther F. Carrodeguas (geb. 1979) war eine der ersten…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 5/2022

Magazin
Das Heiner-Müller-Programm der slowenischen Band Laibach
von Tom Mustroph
Die in der beginnenden Pandemie halb vergessene Produktion „Wir sind das Volk“ von der Band Laibach mit Texten von Heiner Müller wird urplötzlich zum aktuellen Stück zur Lage. Gesagtes, Geschriebenes und auch Gesungenes ändern sich, wenn die Kontexte sich ändern. Diese Erfahrung durfte man beim musikalisch-theatralen Industrial-Event „Wir sind das Volk“ machen, den die slowenische Konzept-Band Laibach mit sehr deutschen Texten von den Gebrüdern Grimm über Adolf Hitler bis Heiner Müller im Berliner HAU veranstaltete. Das war nicht ganz unerwartet, weil mit Laibach und Müller nicht nur De- und Rekontextualisierungsstrategen aufeinandertrafen. Auch die per Tondokument eingespielte nationalsozialistische Rhetorik ist mit seinen antikapitalistischen Momenten sehr schillernd. Und Grimm’sche Märchen sind per se deutungsoffen in ganz viele Richtungen.
Aber als Glanzstück der Rekontextualisierung erwies sich dann doch das Müller-Zitat „Ich will ein Deutscher sein“. Es wurde von Cveto Kobal, unterstützt von einem Streicherquartett und den Perkussionsperformern von The Stroj, in der Manier eines Schlagerbarden vorgetragen. Bei der ersten Aufführungsserie im fernen Jahr 2020 löste der in Dauerschleife gesungene Satz beim Ironie-seligen und postdramatisch konditionierten HAU-Publikum noch hübsches Gelächter aus; in Unkenntnis des Müller’schen Kontextes mochte man sich da noch Zwerchfell bebend von jedem Deutschsein-Wollen distanzieren. Müller entnahm den Satz ursprünglich dem…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 5/2022

Theaterkünstler*innen
André Kaczmarczyk rockt als Schauspieler und Regisseur das Düsseldorfer Schauspielhaus. Seit Neuestem ist er auch Fernsehkommissar im „Polizeiruf 110“ in Frankfurt (Oder)
von Stefan Keim
Lady Macbeth ist tot. Einfach umgekippt, nicht von den Mauern des Schlosses Dunsinane gesprungen. Sie ist deutlich älter als Macbeth, mehr Mutter als Ehefrau. Er steht direkt daneben, ein schmaler junger Mann, der die einzige Person verloren hat, die ihm noch geblieben ist. Der Schauspieler André Kaczmarczyk hebt langsam die Arme. Es wirkt, als wolle er ein unsichtbares Instrument spielen, einen Kontrabass. Dann scheint er zu tanzen, erst mit dem Geist der Lady, dann mit sich allein. Es gibt keine Musik zu dieser Szene, und das ist großartig. So liegt alle Aufmerksamkeit auf diesem Mann, der alles verloren hat. Und man sieht, wie er reagiert, rein körperlich, ohne dass sich der Tanz klar deuten ließe. Ein großer Theatermoment.
„Das ist wie ein Übertritt in den Wahnsinn, den man gar nicht anders zeigen könnte“, sagt André Kaczmarczyk im Gespräch. „Der Tanz entsteht an jedem Abend neu.“ Eine Choreografin war hier nicht im Spiel. Die Bewegungen kommen aus dem Inneren, sind Ausdruck purer Emotion und deshalb auch unvorhersehbar. André Kaczmarczyk lässt sich auf so etwas ein, völlig natürlich, ohne einen Anflug von Scheu. Das macht sein Spiel bei aller Virtuosität so offen und faszinierend. Er ist einer dieser wenigen Spieler, die in jeder Rolle zum Protagonisten werden. Weil auch in kleinen und stillen Momenten zu spüren ist, dass ihnen eine unerschöpfliche Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung steht. Gert Voss war auch so einer.
Seit sechs Jahren arbeitet André…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 5/2022
Magazin
Eine Bilanz von Manuel Bürgin am Theater Winkelwiese in Zürich
von Dominik Busch
Manuel Bürgin ist ein Kommunikator. Er sagt, was er denkt, und wenn er erzählt, dann plastisch und konkret. Den Satz, der seine siebenjährige Intendanz (2015–22) am besten zusammenfasst, sagt er gleich zu Beginn unseres Gesprächs: „Es hat sich gelohnt, sich nicht einzuschränken.“ Es stimmt: Bürgin hat im Kellergewölbe der altehrwürdigen Villa Tobler auf Vielfalt gesetzt. Und es gab Leute, die ihn dafür kritisierten. Sein Vorgänger Stephan Roppel hatte das Profil des Hauses zweifellos geschärft und mit einem beinahe protestantischen Sola-scriptura-Purismus fast ausschließlich auf Gegenwartsdramatik gesetzt. Bürgin und sein Team fanden: Es führen viele Wege zu einem gelungenen Theaterabend. Man kann sich den scheidenden künstlerischen Leiter der Winkelwiese darum als Botaniker vorstellen, der vor Monokulturen warnt – und mir scheint: zu Recht.
Man glaubt Bürgin, wenn er sagt, dass er sein Theater als Ort mag: „Alles ist kompakt, alles ist nah. Ein Handgriff, und man hat eine Leiter. Gleich daneben steht das Lichtpult. Und in zehn Schritten ist man drüben im Büro.“ Es ist diese Nähe, die seiner Art des Arbeitens entspricht. Bürgin ist ein Teamplayer, er denkt in der Gruppe, und die kurzen Wege, die Unmittelbarkeit, das liegt ihm. Aber er mochte und mag auch den Bühnenraum: „Der Bogen, unter dem das Publikum sitzt, ist derselbe Bogen, unter dem auch die Schauspieler:innen spielen. Diese Nähe gibt der Raum vor.“ Gleich in der Eröffnungsproduktion hat er auf diese…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 5/2022

Magazin
Volker Brauns Langgedicht „Luf-Passion“ in der Berliner Akademie der Künste
von Thomas Irmer
Das Luf-Boot aus Papua-Neuguinea, ein Ende des 19. Jahrhunderts aus einem einzigen Stamm gefertigtes Langboot mit zwei Segeln und einem Ausleger, ist zum Symbol der Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte und ihrer unklaren Darstellung in ethnologischen Sammlungen geworden. Als Prachtstück im neu eröffneten Berliner Humboldt Forum, in das es aus den bis in die Kaiserzeit zurückreichenden Sammlungen in Berlin-Dahlem gebracht wurde, sollte es auch die hochstehende Pflege und Bewahrung des Weltkulturerbes repräsentieren. Vor der Umsetzung wurde das 15 Meter lange Holzboot „entwest“, das heißt von Ungeziefer und anderem Befall gereinigt, und anschließend durch eine eigens dafür verbliebene Öffnung in den jetzigen Ausstellungsraum geschoben. Mit der Eröffnung des Humboldt Forums war es somit eingemauert – und die Diskussion begann.
Der Historiker Götz Aly bestritt in seinem kurz vor der offiziellen Eröffnung erschienenen Buch „Das Prachtboot“ (Mai 2021) einen irgendwie rechtmäßigen Erwerb des Boots von seinen Erbauern, deren kleines Volk der Lufiten im kaiserlich kolonisierten Bismarck-Archipel nach Angriffen, Verschleppung zur Zwangsarbeit und Krankheiten zum Untergang verurteilt war. Entscheidend ist die Formulierung des Geschäftsführers der Handelsgesellschaft Hernsheim & Co., Max Thiel, dass das Boot „in meine Hände übergegangen“ sei. Kaufbelege und dergleichen gibt es nicht, aber wie Thiel die Verschiffung des Boots nach Deutschland organisierte und an die Berliner…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 4/2022

Protagonisten
Die Schauspielerin Maike Knirsch vom Thalia Theater Hamburg im Porträt
von Hans-Dieter Schütt
Spiel darf so ziemlich alles. Spiel ist eine Erlaubnis, von der Romantik ausgestellt: Mag das Leben entgeistert oder gebieterisch glotzen – wir schauen trotzdem so in die Runde, als gäbe es noch eine Welt woanders. Es gibt sie ja tatsächlich. Überall dort, wo der Mensch erfährt, was mit ihm – und unverwechselbar nur mit ihm! – gemeint sei. Dort, wo er erfährt, auf welche Weise er zu sich selbst kommen kann.
Maike Knirsch sitzt mir in einer der Proberäume des Thalia Theaters Hamburg gegenüber, in der Altonaer Gaußstraße, und worüber wir auch sprechen – ihre Erzählung ist: Frage, Prüfung. Ist Suche nach jener Welt woanders; tastend wirkt sie, drängend, bei gleichzeitiger Vorsicht, sie könne bei ihren Selbst- und Berufserklärungen nur immer bei den falschen Worten landen, bei Worten, die zu forsch, zu eindeutig sind. Zugriffe mit Zögern. Besitznahme mit Bedacht.
Im Dezember 2021 erhielt die gebürtige Stendalerin den Boy-Gobert-Preis der Hamburger Körber-Stiftung. Juryvorsitzender Burghart Klaußner: „Maike Knirsch bringt das Kunststück fertig, ganz im Moment zu spielen und ihrer Figur zugleich mit einem wohlwollenden Lächeln beim Spielen zuzusehen.“ Und dann stand die 26-Jährige auf der Bühne, in einer Gemütsmischung aus erkennbarer Aufregung und ebenso sichtbarer Souveränität, sie blickte lange in den Saal, und man begriff in diesem Moment Ewigkeit, in dieser Ewigkeit von Moment, was Kafka als einen Kern von Schauspiel bezeichnete: „diese Frechheit, sich anschauen zu lassen“.…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 4/2022

Magazin
Hansueli Trübs Schattentheater in Aarau
von Elisabeth Feller
Was ist ein Mensch ohne Schatten? Nichts, wie Adelbert von Chamissos „Peter Schlemihl“ schmerzlich erfährt. Man kann die Frage auch umgekehrt stellen: Was ist ein Mensch mit Schatten? Viel, wie Hansueli Trüb – eine prägende Persönlichkeit des Schweizer Figurentheaters – in „Shadows“, einer Koproduktion von Das Theater-Pack und Bühne Aarau, zeigt. Trüb ist vom Schattentheater seit Jahrzehnten fasziniert. Präsentiert er nun, in der Regie von Astride Schläfli, seine „Shadows“, zieht er Bilanz über seine Versuche und Ergebnisse im Umgang mit dieser besonderen Theaterform.
Die klassische, rechteckige Leinwand gilt Trüb dabei nicht mehr als das A und O; stattdessen projiziert er auf bewegliche Elemente. Der Raum spielt dabei eine entscheidende Rolle. Steht Trüb die im Herbst 2021 eröffnete Alte Reithalle in Aarau zur Verfügung, ist das ein Geschenk. Sie nimmt einerseits durch das ungeschönte Gemäuer und das Gebälk sowie andererseits durch ihre riesige Dimension für sich ein. Kein Wunder, dass der Schattenmagier darin zu verschwinden scheint. Deshalb kann man ihn zu Beginn kaum orten, wenn er die spärlich beleuchtete Halle betritt und sich an schwer identifizierbaren Gegenständen zu schaffen macht. Schon bald wird jedoch klar, dass diese Bestandteil eines Labors sind, in das Hansueli Trüb einlädt: Das Publikum soll aus nächster Nähe sehen können, wie Schatten geformt und „gemalt“ werden.
Hansueli Trüb ist kein hochtourig agierender Theatermann; bedächtigen Schrittes durchquert…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 4/2022

Magazin
Die Münchner Biennale für neues Musiktheater
von Thomas Irmer
Einige der Uraufführungen im Münchner Programm vor zwei Jahren wurden nach dem ersten Lockdown noch im gleichen Jahr unter dem treffenden Titel „Point of NEW Return“ an verschiedenen Orten nachgeholt. Die künstlerische Leitung, Daniel Ott und Manos Tsangaris, wollte so die aufwendig vorbereiteten Produktionen retten und ahnungsvoll einen Stau in die folgende Ausgabe des Festivals für neues Musiktheater verhindern.
Die diesjährige Ausgabe ist als „Dynamisches Festival“ deklariert, mit mehreren Vorab-Aufführungen außerhalb Münchens und in online-Präsentationen, bevor dann im Mai das Hauptprogramm in München unter dem Motto „Good Friends“ stattfindet. Den Auftakt machte die schon für 2020 angesetzte Produktion „Once to be realised“, eine Begegnung mit dem griechischen Komponisten Jani Christou, in der für Neues mittlerweile legendären Tischlerei der Deutschen Oper Berlin.
Christou, Komponist und Avantgardist der szenisch erneuerten Musik-Performance in den 1960er Jahren, hinterließ bei seinem frühen Unfalltod 1970 in Athen ein umfangreiches Konvolut an Projektskizzen, insgesamt 130 sogenannte project files. Einige der durchnummerierten Entwürfe wurden nun von sechs Komponist:innen der Gegenwart adaptiert und in einem Parcours von dem griechischen Regisseur Michail Marmarinos inszeniert. Als roter Faden für die meist kurzen Hommage-Stücke von Olga Neuwirth, Samir Odeh-Tamimi, Christian Wolff, Barblina Meierhans, Beat Furrer und Younghi Pagh-Paan ist die einfallsreiche…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2022

Look Out
Die Schauspielerin und Theatermacherin Mariana Senne sucht den kollektiven Orgasmus
von Friederike Felbeck
Theatermachen kann ein ganz schön langweiliges und einsames Geschäft sein. Das hat Mariana Senne, die 2014 der Liebe wegen ihre brasilianische Heimat São Paulo verlässt und nach Europa aufbricht, schon gelernt. So lädt sie denn auch in ihrer aktuellen Performance „I love you but I need to kill you now “ ihr Publikum ein, sich gemeinsam an eine lange Tafel zu setzen. Die Arbeit, die im vergangenen Jahr in Amsterdam uraufgeführt wurde, ist eine musikalische, bildgewaltige und höchst persönliche Tour de Force der Performerin über den Kampf zweier Kontinente. Der Tisch, unter den sie gleich zu Beginn kriecht, wird zum Mutterleib. Ihre offensive Nacktheit, die eine Kamera nach draußen trägt, ist gleichzeitig ganz nah und doch so behutsam auf Distanz inszeniert, wie sie selbstverständlich für ihr ganzes Spiel ist. Wenn es nicht so lange her wäre, würde ich sagen: sie erinnert an Susanne Lothar, wie sie in Peter Zadeks „Lulu“ die Treppe rauf und runter prescht, lustvoll, ackernd, immer auf der Suche. Mariana Senne tanzt und singt durch ihre Performance. Ihre Worte leiht sie sich aus von der Philosophin und Aktivistin Silvia Federici, von Frantz Fanon, einem Wegbereiter der französischen Entkolonialisierung, und von Valerie Solanas, der Attentäterin Andy Warhols.
Als Jugendliche in einem Austauschprogramm in den USA bewirbt sie sich für die Gesangsklasse ihrer High School mit dem Lied „The Girl from Ipanema“ – und wird abgelehnt. Ein Glücksfall, denn ihr Vorsprechen als „Agnes of…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2022

lausitz
Lucie Luise Thiede und Susann Thiede im Porträt
von Hans-Dieter Schütt
Sie hätten derzeit gemeinsam auf der Bühne stehen sollen: Mutter und Tochter – als Mutter und Tochter. Susann Thiede in der Rolle der Waschfrau Wolff und Lucie Luise in der Rolle der schwangeren Leontine. In Gerhart Hauptmanns „Biberpelz“, Regie: Armin Petras. Aber Lucie Luise spielt nicht – sie ist schwanger. So lehrt das Leben die Kunst: Umbesetzung.
Wir sitzen im Probenhaus des Staatstheaters Cottbus, im „Biberpelz“ sieht man im Video den Madlower See, den Spreewald, die ruppigen Ufer. Licht und Grauwerte der Lausitz. Wo der Dichter Gottfried Unterdörfer hoffnungsvoll schrieb: „Ich will den Bogen setzen“. Wo Volker Brauns aufsteigendes und heruntergekommenes Hoywoy nicht weit ist. Zwei Spielerinnen, sofort spürbar: Expertinnen darin, (noch immer) aufeinander neugierig zu sein.
Irgendwann war das unpassendste Wort gefallen: Provinz. Wo es doch in beider Arbeit absolut nichts zu suchen hat. „Wo ich bin, ist keine Provinz!“ Ein Satz von Christoph Schroth. Vier Jahre spielte Susann Thiede am Staatstheater Schwerin, dort hatte Intendant und Regisseur Schroth auf eine Weise Theater betrieben, die zum Fußball aufschloss: Das Publikum kam in Sonderzügen. Susann Thiede folgte Schroth nach Cottbus. Auch hier, viele Jahre: Volkstheater. Ohne Ruch des Seichten. Volkes Theater, „eine instanz der unberuhigten vernunft“ (noch einmal Volker Braun).
Susann Thiede, Künstlerin mit einer wahrlich langen Rollenliste, spricht von der „Kraft des Ensembles“; eine wehrhafte Setzung in einer…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2022

Protagonisten
von Herbert Fritsch
Bei „Pension Schöller / Die Schlacht“ damals an der Volksbühne, da hat er mich geschockt, der Henry. Da war jede Vorstellung eine Schlacht. Ich versuchte, ihn mit meinen beiden Riesenschlangen, den Tigerpythons, zu traktieren. Er hatte mich immer gebeten, ihm nicht zu nahe zu kommen, aber ich wollte ihn ärgern und bin ihm sehr nahe gekommen. Das war ihm wirklich unangenehm. Was er dann aber daraus gemacht hat, war ein Feuerwerk des Slapsticks. Er machte die wahnwitzigsten Grimassen, rutschte immer wieder aus und fiel hin, spielte eine entsetzliche, saukomische Angst, und ich konnte nur noch dastehen, blöd grinsen, mit meinen beiden Riesenschlangen, die niemanden mehr interessierten, und zu guter Letzt ging er doch noch auf mich los, löste seine Hosenträger und machte die zu Schlangen, um mir zu zeigen, wie das geht. Das war der Gipfel, ein Ereignis, eine Sternstunde der Schauspielkunst, die ich nie vergessen werde, und ich ziehe meinen Hut, verneige mich und gratuliere zum Geburtstag!
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2022

Gespräch
von Lutz Hillmann und Thomas Irmer
Lutz Hillmann, Sachsen hat als einziges Bundesland in der publikumsträchtigen Vorweihnachtszeit und dann bis Mitte Januar alle Theater geschlossen und ist damit im Bundesvergleich einen Sonderweg gegangen. War der sinnvoll?
Ab 22. November gab es den sogenannten Wellenbrecher mit einem Kulturlockdown, der die Theater und Orchester betraf. Die Krankenhäuser waren voll, die Zahlen hoch, die Impfquote niedrig, und deshalb gab es ein großes Verständnis dafür, dass etwas getan werden musste im Land.
Nun ist es doch so, dass die Theater alles getan haben für einen sicheren Vorstellungsbetrieb und das Kulturpublikum gehört wahrscheinlich in der Mehrheit auch nicht zu den aktiven Gegnern der Corona-Maßnahmen. Werden mit solchen harten Einschränkungen nicht die Falschen getroffen?
Das stimmt, es gibt kein nachweisliches Infektionsgeschehen bei Kulturveranstaltungen, insbesondere nicht im Theater. Gutachten und empirische Studien haben das belegt. Solche Räume sind fast so sicher wie im Freiluftbereich. Deshalb war das schon schwer zu verkraften. Und es war ja auch nicht zu erwarten, dass sich das Infektionsgeschehen dadurch verändert. Das wurde durchaus als Symbolpolitik der Landesregierung am Modell der Kultur gewertet. Die Regierung befand sich in der Zwickmühle, wenn die Theater weiterspielen, dass dann andere sagen könnten, warum dürfen wir nicht offenbleiben. Das ist ja eines der grundsätzlichen Probleme, dass man in dieser Situation so aufeinander guckt. Wenn man es…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2022