Brechts Galilei
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In den 1930er Jahren befasste sich Brecht, der Flüchtling im Exil, begreiflicherweise mehrfach mit den Gestalten der exilierten, verbannten, oder isolierten Dichter, Weisen, Denker und Vordenker. Sich selbst verglich er vielleicht mit nichts Geringerem als den Begründern des historischen Materialismus. Auffälligerweise im Zusammenhang eines Gesprächs darüber, dass die Sowjetunion in ein historisch älteres
„monarchisches Stadium“ mit „persönlichem Regiment“ zurückgefallen sei, kommt er darauf zu sprechen, dass „Marx und Engels mit der Auflösung der Ersten Internationale aus dem Aktionszusammenhange mit der
Arbeiterbewegung herausgerissen worden seien. Seither hätten sie nur noch Ratschläge, und zwar private, die zur Publikation nicht bestimmt gewesen seien, an einzelne Führer gerichtet. Auch sei es kein Zufall – wenn auch bedauerlich –, daß Engels sich zuletzt der Naturwissenschaft zugewandt habe.“16 Wertvoller Hinweis: Wie Engels, der Begründer der neuen Wissenschaft, ihre reale soziale Umsetzung nicht mehr beeinflusst, so muss Galilei/Brecht sich auf reine Wissenschaft/Theorie zurückziehen, isoliert von der gesellschaftlichen Umsetzung seiner Ideen.
Es liegt auf der Hand, dass angesichts seiner schweren Zweifel und Vorbehalte Brecht kaum anders konnte, als die eigene öffentliche Zurückhaltung, seine Solidarisierung mit dem Stalinschen Staat als dem wichtigen Gegner Hitlers auch immer wieder angst- oder schamvoll in Frage zu stellen. Brechts öffentlich bekundete Solidarität mit der Sowjetunion ließ es nicht zu, dass er jemals offen gegen die Verhaftung und Ermordung von Menschen protestierte, sogar solchen, die ihm nahe standen, wie Carola Neher. Immerhin geht es in dem Gedicht „Ist das Volk unfehlbar?“ um die Erschießung Tretjakows:
Mein Lehrer
Der große, freundliche
Ist erschossen worden, verurteilt durch ein Volksgericht.
Als ein Spion. Sein Name ist verdammt.
Seine Bücher sind vernichtet. Das Gespräch über ihn
Ist verdächtig und verstummt.
Gesetzt, er ist unschuldig?
Wie mag er zum Tod gehn?17
Wäre es möglich – unausdenkbarer Gedanke –, dass er damit einem Staat diente, der, mit Trotzkis Begriff, die Revolution längst verraten hatte? Brecht schwieg, aber, so erinnert sich Benjamin: „Die russische Entwicklung verfolge er; und die Schriften von Trotzki ebenso. Sie beweisen, daß ein Verdacht besteht. […] Sollte er eines Tages erwiesen werden, so müßte man das Regime bekämpfen – und zwar öffentlich. Aber ‚leider oder Gottseidank, wie sie wollen‘“ – diese Wendung gibt Benjamin wörtlich wieder – sei „dieser Verdacht heute noch nicht Gewißheit. Eine Politik wie die Trotzkische aus ihm abzuleiten, sei nicht zu verantworten.“18 Im persönlichen Bereich kann der vielgerühmte Zweifel zur schweren Schuld werden, wenn er eine vielleicht geforderte sofortige Parteinahme verhindert.
Dass der Text das Problem, unter Gefahr für Leib und Leben die Wahrheit zu bekennen, als ein politisches und nicht als ein individuelles moralisches erscheinen lässt, dürfte wenig daran geändert haben, dass es für Brecht persönlich ein solches war. David Pike findet das schlechte Gewissen Brechts über sein Schweigen in dem Gedicht „An die Nachgeborenen“:
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind
Und wie muss Brecht ein im Oktober 1938, also unmittelbar vor der Niederschrift des Galilei, erschienener Artikel in der Trotzkistischen Zeitschrift Unser Wort getroffen haben, der ihn, Brecht, ganz persönlich anrief. David Pike hat das Dokument aufgefunden, aber es nicht mit Galilei in Zusammenhang gebracht. In diesem Artikel heißt es:
Sie, Herr Brecht, haben Carola Neher gekannt. Sie wissen, daß sie
weder eine Terroristin, noch eine Spionin, sondern ein tapferer
Mensch und ein große Künstlerin war. Weshalb schweigen Sie? Weil
Stalin Ihre Publikationen „Das Wort“ […] bezahlt? Woher nehmen
Sie noch den Mut, gegen Hitlers Mord an Liese Herrmann, Anettka
André und Hans Linden zu protestieren?
Und weiter:
Wenn Felix Halle, Ernst Ottwaldt, Carola Neher, Rudolf Haus etc.
in Hitlers Kerkern säßen und in Todesgefahr schwebten, wie würdet
ihr schreien, schreiben, das arme Weltgewissen maltraetieren. Doch
wenn Stalin die gleichen Leute umbringt, so rührt euch das nicht im
geringsten. […] Und ihr wundert euch noch, daß ihr Schritt für
Schritt an Boden verliert, der Faschismus stets größere Kreise zieht?
[…] Stalin kaufte eure moralische Autorität, um das Weltgewissen
einzuschläfern, ihr gabt euch dazu her und wundert euch noch, wenn
euch danach das Weltgewissen den Hintern zukehrt? Eure Tätigkeit
erschöpft sich in dem einen Wort: Verrat. Verrat an euren Büchern
und eurer Moral, Verrat an den Opfern Hitlers und an den Opfern
Stalins, Verrat an den Massen und Verrat an euch selbst. Wahrhaftig,
bessere Alliierte könnte der Faschismus nicht finden als solche Gegner.
Wenn es euch nicht gäbe, Goebbels müßte euch erfinden.19
Hier liegt das Undenkbare zutage. Die Möglichkeit, es zu artikulieren, bestand, so scheint es, wohl nur im widerspruchsvollen Diskurs der Kunst. Für Brecht persönlich war nicht auszuschließen, dass sich die Kapitulation vor der Stalinschen Kirche am Ende als Verbrechen an der „neuen Zeit“ statt als weitblickende List erweisen würde und zugleich als Verrat an den ihm nahestehenden „Genossen“ und an Freunden.