
Dialog 3
König Jònsan
Drei Theaterstücke aus Korea
von Lee Youn-taek
Paperback mit 140 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 3934344275
Der Schriftsteller und Theatermacher Lee Youn-taek (geb. 1952) begann bereits während seines Studiums an der Seoul Theatre School und der Korean National Open University Gedichte, Essays und Zeitungskolumnen zu schreiben. 1986 gründete er seine Straßentheatertruppe "Koryphaee", mit der er überwiegend eigene Werke inszeniert, aber auch Bearbeitungen westlicher Dramen. Seine Stücke sind herausragende Beispiele eines zeitgenössischen koreanischen Theaters, das trotz seiner Modernität imstande ist, traditionelle Theaterformen zu inkorporieren und lebendig zu halten. International gehört Lee Youn-taek zu den meist beachteten Künstlern seines Landes. Viele seiner Stücke wurden außerhalb Koreas aufgeführt.
Schamanismus und Theater
Im Frühjahr 1998 veranstaltete das Berliner Haus der Kulturen der Welt ein koreanisches Theaterfestival „Im Jahr des Tigers - Korea". Vier Theater- und Tanzkompanien zeigten ausgewählte Arbeiten. Lee Youn-taeks Truppe „Koryphaee" brachte sein Stück O Gu - Totenritual zur Aufführung sowie seine Inszenierung des Hamlet. Die Tänzerin Kim Hyonok führte ihre Stücke Modus und Trans - Insel der wartenden Seelen auf sowie Tribut an Isang Yun, das sie zur Musik des 1995 in Berlin gestorbenen Komponisten tanzte. Hong Sin-Cha und ihre „Laughing Stone Dance Company" präsentierten die Tanzstücke Pilgrimage und Musing. Kim Aras „Theatre Company" führte die beiden ersten Teile ihrer Ödipus-Trilogie auf. Darüber hinaus vollzog die Schamanin Kim Keum Kwa ein etwa sechsstündiges schamanistisches Ritual.
Diese Zusammenstellung mochte auf den ersten Blick befremden. Sie ergab jedoch, wie sich im Laufe des Festivals herausstellte, einen tieferen Sinn. Und dies nicht nur, weil zu erfahren war, dass die Leiter der Truppen entweder selbst praktizierende Schamanen sind - wie die Tänzerin Kim Hyonok - oder bei einer Schamanin hospitiert und praktiziert haben, sondern vor allem, weil sich die gezeigten Aufführungen ausnahmslos, wenn auch auf unterschiedliche Weise, auf schamanistische Rituale bezogen. Ritualität und Theatralität stellten in ihnen keinen Gegensatz dar, sondern ergänzten, unterstützten, verstärkten einander. Während das Ritual eine Fülle theatraler Elemente aufwies, schienen sich die Theater- und Tanzaufführungen aus einem schier unerschöpflichen Repertoire an rituellen Elementen zu bedienen. Eine klare Grenze zwischen Theater und Ritual ließ sich weder beim Ritual noch bei den Theateraufführungen ziehen, bei denen es sich fraglos um herausragende Beispiele zeitgenössischen Theaters handelte. Dieser Befund vermag aus der Perspektive der europäischen Kultur besonders zu faszinieren. Denn hier waren Theater und Theatertheorie im 20. Jahrhundert immer wieder nachhaltig von der Diskussion um das Verhältnis von Ritual und Theater bestimmt. Mit der Herausbildung professioneller und kommerzieller Theatertruppen im 16. Jahrhundert hatten sich in Europa die Wege von Ritual und Theater getrennt - auch wenn Theateraufführungen weiterhin in höfischen und kirchlichen Ritualen ihren Platz behielten. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert - zur gleichen Zeit ungefähr, da in den Altertums- und Religionswissenschaften die Ritualforschung einsetzte - wurde Kritik am textfixierten literarischen Theater und seiner Trennung von Akteuren und Zuschauern laut. Ihm wurde vorgeworfen, dass es bestenfalls als „Bildungstheater" für den einzelnen fungiere, jedoch seine Wirksamkeit längst eingebüßt habe. Um sie wiederzugewinnen, solle Theater sich dem Ritual annähern, solle „wieder" zum Ritual werden (Georg Fuchs). Während herausragende Theaterleute wie Max Reinhardt - vor allem in seinen Inszenierungen der Salome (1902), der Elektra (1903; jeweils mit Gertrud Eysoldt in der Titelrolle), des Ödipus (1910) und der Orestie (1911; beide im Zirkus Schumann) - und Vaclav Nijinskij - besonders mit seiner Choreographie von Sacre du Printemps (1913) - in der Tat versuchten, theatrale mit rituellen Elementen zu verbinden, bemühten sich Altertumsforscher den Nachweis zu erbringen, dass das früheste europäische Theater, nämlich das griechische, tatsächlich aus rituellen Ursprüngen hervorgegangen sei. Jane Ellen Harrison, der Kopf der so genannten Cambridge Ritualists, entwickelte in ihrer Schrift Themis. A Study of the Social Origin of Greek Religion (1912) ihre Theorie vom Ursprung des Theaters aus dem Ritual. Sie bezog sich dabei auf die Idee von Tod und Wiedergeburt eines Gottes, die der Ethnologe James G. Frazer in The Golden Bough (1890) ausführt. Frazer versucht hier unter Rückgriff auf von anderen gesammeltes reichhaltiges ethnologisches Material die These zu belegen, dass ein solches Todes- und Wiedergeburtsritual in allen Kulturen verbreitet war, dass es sich um einen universellen Ritus handelt. Harrison ging von der Annahme eines vordionysischen Rituals aus, mit dem der Frühlings-Daimon, eine Art Jahreszeitengott, verehrt wurde. Das dionysische Ritual wurde entsprechend als Ableger des alten Frühlings-Daimon-Rituals begriffen. Über mehrere Kapitel versucht Harrison, Stück für Stück den Nachweis zu führen, dass der Dithyrambus, aus dem sich nach Aristoteles' Aussagen die Tragödie entwickelte, nichts anderes darstellt als den Gesang zur Feier des Frühlings-Daimons, als einen konstitutiven Bestandteil seines Rituals.
Harrisons Theorie vom Ursprung des griechischen Theaters aus dem Ritual verstieß gegen ein Tabu. Denn sie widersprach der Überzeugung ihrer Zeitgenossen, dass die griechische Kultur, nach deren Vorbild und Standards sie ihre eigene Kultur modellierten, ihr Selbstbild und Selbstverständnis in den überlieferten Tempeln, Statuen und Texten artikuliert hatte, die sie als Ausdruck höchster Würde, „stiller Einfalt" und „edler Größe" lasen. Im Lichte von Harrisons Theorie erschienen die so bewunderten Texte der griechischen Tragödien und Komödien als Spätfolgen bzw. Ableger von rituellen Handlungen, mit denen - wie bei den so genannten „Wilden", den „primitiven Völkern" - ein Ritual zur Feier eines Jahreszeitengottes vollzogen wurde.
Das Ritual galt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als eine auf die Gemeinschaft bezogene, Gemeinschaft stiftende und allererst hervorbringende Art von Aufführung. Es erscheint daher plausibel, dass ein Theater, welches eine Einheit von Akteuren und Zuschauern herstellen und so eine neue Gemeinschaft stiften wollte - wie dies Fuchs proklamierte und Reinhardt mit seinem Theater der Fünftausend im Zirkus Schumann zu realisieren suchte - eine Ritualisierung vollzog, dass es die Grenze zwischen Theater und Ritual aufzuheben trachtete. Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass Theaterreform und Ritualforschung zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg eigentlich ein utopisches Projekt verfolgten. Es ging um die Entwicklung von neuen Modellen für eine künftige Gesellschaft, in der die jetzt kollidierenden Ansprüche und Bedürfnisse von Individuum und Gesellschaft versöhnt sein würden.
Der Erste Weltkrieg entlarvte derartige Hoffnungen als in der Tat utopisch. Zwar stand auch nach dem Ersten Weltkrieg die Notwendigkeit, neue Gemeinschaften zu bilden, ganz oben auf der Tagesordnung. Zwar hielten die Vertreter der Theater- Avantgarde bis in die dreißiger Jahre - und teilweise, wie Artaud, darüber hinaus - ihre Forderung aufrecht, dass Theater Akteure und Zuschauer zu einer Gemeinschaft verbinden und auf diese Weise zu ihrer Transformation führen sollte. Gleichwohl folgte aus dieser Forderung nun nicht mehr unbedingt eine Ritualisierung des Theaters, wie Artaud sie seit den zwanziger Jahren anstrebte, der das Theater in ein „magisches Ritual" verwandeln wollte. In der Weimarer Republik und in der jungen Sowjetunion lief sie eher auf eine Politisierung des Theaters hinaus, die allerdings ihrerseits häufig rituelle Züge annahm.
Seit den sechziger Jahren griffen Aktions- und Performance-Künstler oder auch die Vertreter eines so genannten rituellen Theaters ganz ausdrücklich, teilweise unter expliziter Berufung auf Artaud, wieder auf Rituale zurück. Aktions- und Performance- Künstler wie Hermann Nitsch, Joseph Beuys, Marina Abramovic oder Theaterleute wie Jerzy Grotowski und Richard Schechner - um nur einige Beispiele zu nennen - bezogen sich in und mit ihren Aufführungen auf Opfer-, Heilungs- und andere Rituale. Sie definierten auf diese Weise sowohl das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern als auch zwischen Ritual und Theater neu. Ihre Aufführungen stürzten häufig den Zuschauer in eine Krise, zu deren Bewältigung er nicht mehr auf allgemein anerkannte Verhaltensstandards zurückgeifen konnte. Die bisherigen Standards wurden nicht mehr akzeptiert, neue waren noch nicht formuliert. Eine solche Situation ähnelt auffallend derjenigen eines Rituals, wie sie die Ritualforschung der sechziger und siebziger Jahre begriff und beschrieb. Unter Bezug auf Arnold van Genneps Theorie der Übergangsriten (Les rites de passage 1909) bezeichnete Voctor Turner den Zustand, der nach der Abtrennungsphase in der so genannten Transformationsphase hergestellt wird, als Zustand der Liminalität (von lat. limen = die Schwelle). Er bestimmte ihn genauer als Zustand einer labilen Zwischenexistenz „betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial."1 Turner begreift die Schwellenphase als einen Zustand, der den am Ritual Beteiligten, vor allem denen, welche die Schwellenphase durchlaufen, die Möglichkeit zur Schaffung kultureller Spiel- und Freiräume für Experimente und Innovationen eröffnet. Denn „in liminality, new ways of acting, new combinations of symbols, are tried out, to be discarded or accepted."2 Die Künstler, die sich auf Rituale bezogen, um mit ihren Aufführungen eben solche Situationen zu schaffen, die imstande sind, die Beteiligten - Künstler und Zuschauer - in den Zustand eines „betwixt and between" zu versetzen und ihnen so Spielräume für Innovationen zu eröffnen, erhoben allerdings kaum je den Anspruch, mit ihren Aktionen tatsächlich ein Ritual zu vollziehen - auch wenn Joseph Beuys über seine Aktion Coyote. I like America and America likes me (New York 1974) anmerkte, dass er „ja die Figur des Schamanen wirklich angenommen [habe] während der Aktion. [...] Allerdings nicht um zurückzuweisen, in dem Sinne, dass wir wieder dahin zurück müssen, wo der Schamane seine Berechtigung hatte [...]. Sondern ich benutze diese alte Figur, um etwas Zukünftiges auszudrücken [...]". Es ginge darum, „sowohl materielle wie spirituelle Zusammenhänge in eine Einheit zu bekommen."3 Sie bestanden vielmehr darauf, dass es sich um künstlerische Performances handelte, um Aktionen individueller Künstler, ohne jedoch eine klare Grenze zwischen ihren Performances und Ritualen ziehen zu wollen. Ähnliches galt für Vertreter eines rituellen Theaters. Auch sie praktizierten einen permanenten Grenzgang zwischen Theater und Ritual.
Waren es in den sechziger und siebziger Jahren überwiegend Aktions- und Performance-Künstler sowie Vertreter eines rituellen Theaters, die auf diese Weise sowohl für sich selbst als auch für die Zuschauer eine Krisensituation schufen, galt dieses spätestens seit den achtziger Jahren jedoch auch für Aufführungen, die sich nicht auf bestimmte Rituale bezogen. In Inszenierungen von Jan Fabre, Reza Abdoh, La La La Human Steps, La Fura dels Baus oder auch von Castorf, Hausmann, Kupfer, Schleef und vielen anderen führten die Performer / Schauspieler die körperlichen Handlungen tatsächlich aus, die ihre Gesten bedeuten sollten. Sie setzen so ihre Körper Gefährdungen und Verletzungen aus - wie mit Stoßen, Fallen, Stürzen, endlosen Wiederholungen anstrengender Übungen. Damit versetzten sie zugleich sich selbst und ihre Zuschauer in einen Zustand des „betwixt and between" und stürzten sie so in eine Krise. Das heißt, Theateraufführungen leisteten hier, was die neuere Ritualforschung als besondere Leistung des Rituals bestimmt. Dies führte am Ende des 20. Jahrhunderts zu der Einsicht, dass sich zwischen Theater und Ritual eine klare Grenze nicht ziehen lässt, auch wenn beide keineswegs identisch sind. So schreiben die Ritualforscher Köpping und Rao: „Bereits auf der formalen Ebene teilen Ritual und Theater eine große Zahl von Komponenten, die die Behauptung einer mehr als nur analogen Ähnlichkeit dieser zwei Handlungsdomänen des Performativen nahezulegen scheinen. Die meisten Versuche, spezifisch formale Kriterien als Eigenschaften unterschiedlicher performativer Rahmensetzungen aufzulisten, sind sowohl durch ethnographische Beobachtungen als auch durch Schauspieler-Erlebnisberichte aufgelöst worden. Beide Genres kennen Inszenierung, Skriptvorlagen (wenn man Mythen als solche bezeichnen möchte), Improvisation, Proben, Einstudierung, in beiden können Teilnehmer wie Zuschauer ihre Rolle verändern, und beide können sowohl dem Ziel der Unterhaltung dienen wie auch dazu, neue Wirklichkeiten aufzuzeigen."4 Sie bestimmen Rituale als transformative Aufführungen, das heißt, als „transformative Akte", denen „die Macht zugeschrieben" wird, „jeden Kontext von Handlung und Bedeutung und auch jeden Rahmen und alle sie konstituierenden Elemente und Personen in jeder möglichen Hinsicht zu transformieren und dadurch Personen und Symbolen einen neuen Zustandsstatus aufzuprägen."5 Entsprechend gehen sie davon aus, dass es nicht ausschließlich die Veränderung des gesellschaftlichen Status der Beteiligten ist, zu der die Schwellenphase hinführen soll - zum Beispiel indem sie den Jungen in einen Erwachsenen und eine unverheiratete Frau und einen unverheirateten Mann in Eheleute transformiert -, sondern zu deren Transformation „in jeder möglichen Hinsicht", die ihre Wirklichkeitswahrnehmung betrifft.
Mit dieser ausdrücklichen Erweiterung könnte diese Bestimmung auch auf Theater Anwendung finden. Auch hier handelt es sich um transformative Aufführungen. Zwischen Theater und Ritual als transformativen Aufführungen, die zu einer Transformation der Beteiligten führen können, jedoch nicht müssen, lassen sich keine klaren Grenzen ziehen. Damit soll nicht behauptet werden, dass zwischen Ritual und Theater keine Unterschiede bestehen. Entsprechende Unterscheidungen lassen sich sinnvoll jedoch nur im Hinblick auf bestimmte historische Zeitabschnitte innerhalb einer Kultur vornehmen, in denen Theater und Ritual deutlich unterschiedliche Funktionen zugewiesen werden, nicht jedoch auf einer allgemeinen systematischen Ebene.
Diese These wird sowohl durch die Arbeiten von Performance-Künstlern und Theaterleuten seit den sechziger Jahren als auch von der neuen Ritualforschung nahegelegt. Während sie mit Blick auf die europäische Theatergeschichte gleichwohl nicht jedem sofort einleuchten wird, scheint sie mit Blick auf das koreanische Theater durchaus plausibel. Zwischen schamanistischen Ritualen und den traditionellen Theaterformen verlief nie eine scharfe Grenze.
Es besteht seit je eine Vielfalt an traditionellen Theaterformen in Korea. Neben den höfischen Tänzen, die größtenteils chinesischen Ursprungs sind, gehören dazu vor allem professionelle Unterhaltungs- und Volkstheater. Die professionelle Unterhaltung, Kyobang Muyong, die in Bars und Restaurants aufgeführt wird, hat eine komplexe Formensprache entwickelt. Ihre bekanntesten Tänze sind Salpuri, ein Exorzismus-Tanz zu schamanistischer Musik, und Sung-Mu, ein buddhistischer Mönchstanz, der sich aus Trommelsolo und Tanzsolo zusammensetzt. Beide Tänze arbeiten mit hochstilisierten Bewegungen, Gewändern und Dramaturgien. Das Volkstheater besteht vor allem in den ländlichen Gebieten des Südens fort. Hier sind es insbesondere Maskentänze, die zu Festen aufgeführt werden, die sich größter Beliebtheit erfreuen.
Neben diesen Theaterformen hat sich das psychologisch realistische Theater westlicher Prägung, wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde, nie so recht einbürgern können. Zwar wurden in der Hauptstadt der Republik Korea, in Seoul, mehr als hundert Theater nach westlichem Vorbild errichtet. Tatsächlich heimisch geworden ist jedoch nur die Form des Musicals, für das in Korea eine ganze Reihe neuer Stücke geschrieben wurden.
Seit den siebziger Jahren ist im koreanischen Theater eine verstärkte Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen zu beobachten. Das heißt nicht, dass man nun im Namen einer eng gefassten Vorstellung von kultureller Identität auf traditionelle theatrale Formen zurückgreifen und das „moderne" westliche Theater meiden würde. Es geht vielmehr darum, neue Formen eines zeitgenössischen Theaters zu entwickeln, die trotz ihrer Modernität imstande sind, die eigene Tradition zu inkorporieren und lebendig zu halten. Dem Schamanismus, der glaubwürden Zeugen zufolge immer auch als eine Form von Theater begriffen wurde, haben Modernisierung, Urbanisierung und Globalisierung kaum etwas von seinem Einfluss nehmen können. Er ist bis heute lebendig. Es lag daher nahe, sich bei der Entwicklung neuer zeitgenössischer Theaterformen auf den Schamanismus zu beziehen. Theaterleute wie Kim Jungok, Oh Taesuk, Lee Youn-taek und Kim Ara stehen für diese Entwicklung.
Nach Einschätzung koreanischer Kritiker handelt es sich bei Lee Youn-taek (geb. 1952) um den bedeutendsten unter ihnen. Bereits während seines Studiums an der Seoul Theatre School und der Korean National Open University begann er, Gedichte, Essays, Zeitungskolumnen zu schreiben. 1986 gründete er seine Straßentheatertruppe „Koryphaee", mit der er 1990 sein Stück O Gu zur Aufführung brachte. Im selben Jahr inszenierte er Heiner Müllers Der Auftrag. Lee Youn-taek spielt mit seiner Truppe überwiegend eigene Stücke, aber auch Bearbeitungen westlicher Dramen wie Der Prozess (1988), Der Auftrag (1990), Macbeth (1992), Hamlet (1996), Faust (1997 und 2000), Madame Butterfly (1999), Der Sturm (1999), Ödipus (2002). Der Truppe gehören etwa fünfzig Schauspieler an, darunter einige Stars des koreanischen Films und Fernsehens. Sie werden in historischen Tanz- und Musikformen unterrichtet - insbesondere von Ha Jong Bu, einem Meister, der auch mit Ariane Mnouchkine zusammengearbeitet hat.
Die Aufführungen der Truppe „Koryphaee" ebenso wie die Dramaturgie von Lee Youn-taeks Stücken spielen mit dem Zustand der Liminalität. Ständig wird zwischen unterschiedlichen Bereichen hin- und hergewechselt, ständig befinden sich die Figuren im Zustand des Übergangs: zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, zwischen der Welt der Menschen und der der Geister, zwischen Tradition und Moderne. Die Theaterwelt des Lee Youn-taek ist eine Welt des „betwixt and between". In ihr fallen Theatralität und Ritualität immer wieder zusammen. Seine Inszenierung von O Gu gilt als die populärste Zusammenführung von Ritual und Theater. Bis zum Festival in Berlin hatten bereits fast zwei Millionen Koreaner die Aufführung gesehen. Bereits im Jahr der Premiere entfachte sie eine hitzige Debatte darüber, ob sie als Theater oder als schamanistisches Ritual, als Kut, zu begreifen sei. Kritiker wandten gegen die Aufführung ein, dass es sich beim Kut nicht um Kunst, sondern um das Relikt einer Religion vergangener Zeiten handle und dass es nicht zulässig sei, sich lediglich der Ästhetik des Kut zu bedienen, ohne der Religion anzugehören. Lee Youn-taek verteidigte sich: „Für unsere Vorfahren war Theater Kut, der Ritualort eine natürliche Bühne, die Zuschauer und Akteure gemeinsam gestaltet haben. Das Theater, das ich aufspüren will, ist genau am Schnittpunkt von Tradition und Jetzt, es ist ein ‚Kut als Ort, dem wir Leben geben‘."
In der Aufführung wurde ein Totenritual dargestellt. Eine alte Frau, die sich auf der Schwelle zum Tode fühlte, bat ihren aufgeklärten Sohn zu dessen Entsetzen, Schamanen für das Totenritual zu rufen. Im Verlauf des Rituals, dessen Gesänge, Litaneien, Beschwörungen, Tänze immer wieder vom Streit zwischen den Schamaninnen bzw. den Schamaninnen und den Familienangehörigen unterbrochen wurden, starb sie und trat gereinigt in die Unterwelt ein. Die Todesboten, die mit umgeschnalltem Riesenphallus auftraten, mussten sie allerdings noch einmal in die Welt der Lebenden zurückholen, damit sie ihre geldgierige Familie auf den Pfad der Tugend zurückbrachte, was sich nicht ganz einfach - und äußerst komisch - gestaltete. Die Darstellung des Rituals oszillierte. Zwar erschien es insofern als wirkungsvoll, als es die Mutter von allen weltlichen Interessen zu reinigen und ihr einen friedlichen und sicheren Übergang in die Welt der Toten zu garantieren vermochte. Es erwies sich jedoch als außerstande, die Familienmitglieder von ihren Begierden wie Sex, Hab- und Machtgier zu reinigen und ihnen zum Übergang in ein moralisches Leben zu verhelfen.
Auch im Hamlet ging es immer wieder um den Übergang aus einer Welt in die andere. Die Bühne war als eine Art Bestattungsanlage gestaltet, dem Königsgrab Chunmachong nachgebildet. Der Geist von Hamlets Vater erschien aus dem Jenseits, durch ein schamanistisches Beschwörungsritual herbeigerufen. Ophelia geisterte auch nach ihrem Tod noch über die Bühne, ehe sie dann endgültig in der Tiefe versank. Die Schauspieler trugen Masken und kostbare Kostüme, die sie als Wiedergänger aus einer anderen Welt erscheinen ließen. Mit ausladenden Bewegungen nahmen sie den Raum in Besitz. Mit Musik - europäischer und koreanischer -, Gesang und Tanz steigerten sie sich immer wieder in ekstatische Zustände hinein. Rituelle und theatrale Elemente gingen eine unlösbare Einheit ein. Jegliche Diskussion über eine Grenze zwischen Ritual und Theater erschien angesichts dieser Aufführung obsolet - zumal es den Anschein hatte, dass sie auch ihre deutschen Zuschauer für die Zeit ihrer anderthalbstündigen Dauer zu transformieren vermochte: Die Grenze zwischen der Welt der Menschen und der der Geister, zwischen Imagination und Wirklichkeit war durchlässig geworden; ein Übergang von der einen in die andere schien jederzeit möglich. Der Zuschauer befand sich permanent auf der Schwelle, „betwixt and between", zwischen den Welten. Mich haben diese Aufführungen tief beeindruckt.
Das Theaterfestival des Hauses der Kulturen der Welt „Im Jahr des Tigers - Korea" bot deutschen Zuschauern die in der Tat einmalige Gelegenheit, die avanciertesten Produktionen des zeitgenössischen koreanischen Theaters zu sehen und sich trotz aller kultureller Differenzen und auch ohne umfassendes Wissen um die koreanische Kultur- und Theatergeschichte von ihnen gefangen nehmen zu lassen. Nur die Teilnahme an Aufführungen - am besten im originalen Kontext - vermag einen lebendigen Eindruck vom Theater einer fremden Kultur zu vermitteln. Nun besteht jedoch nur in Ausnahmefällen für den deutschen Zuschauer die Möglichkeit, sich Aufführungen des koreanischen Theaters anzusehen. Um ihn dennoch mit dem Gegenwartstheater Koreas bekannt machen zu können, scheinen die Stücke von Lee Youn-taek in besonderer Weise geeignet. Sie sind mit Blick auf das Theater geschrieben, teilweise auch als Folge von Aufführungen verändert und enthalten in den Szenenanweisungen zahlreiche Hinweise auf szenische Vorgänge. Vor allem aber ist ihnen der Übergang von einer Welt in eine andere, der Aufenthalt zwischen den Welten, das „betwixt and between", eingeschrieben, das für die Ritualität der Aufführungen so typisch und charakteristisch ist. Auch der Leser wird den dauernden Übergang nachvollziehen können. Lesen ereignet sich hier als eine Art rite de passage. Zugleich aber wird der Leser - vielleicht noch deutlicher als der Zuschauer bei den Aufführungen - die dramaturgischen Praktiken entdecken, die Lee Youn-taek unter Bezug auf westliche Dramaturgien entwickelt und aufs glücklichste mit traditionellen koreanischen Praktiken verschmolzen hat.
Erika Fischer-Lichte
1 Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London 1969, S. 95. 2 Victor Turner, „Variations on a Theme of Liminality", in: Sally F. Moore & Barbara C. Myerhoff (Hrsg.), Secular Rites, Assen 1977, S. 26-57, S. 40. 3 Zit. nach Uwe M. Schneede, Joseph Beuys. Die Aktionen. Kommentiertes Werk- verzeichnis mit fotographischen Dokumentationen, Ostfildern-Ruit 1994, S. 336. 4 Ursula Rao & Klaus Peter Köpping, „Die ‚performative Wende‘: Leben - Ritual - Theater", in: Klaus Peter Köpping & Ursula Rao (Hrsg.), Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz, Münster, Hamburg, London 2000, S. 11. 5 Ebenda, S. 10.
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Schamanismus und Theatervon Erika Fischer-Lichte | Seite 6 |
Zu meinen Stückenvon Lee Youn-taek | Seite 16 |
König Jònsanvon Lee Youn-taek | Seite 19 |
O GuEin Totenritualvon Lee Youn-taek | Seite 67 |
Der Landgelehrte Dsho Nam-mjòngEin historisches Stückvon Lee Youn-taek | Seite 103 |
Nachwortvon Kim Miy-he | Seite 132 |
Anhang | Seite 134 |
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