
Edition Gegenstand und Raum
Vom Schloss der Könige zum Forum der Republik
Zum Problem der architektonischen Wiederaufführung
Paperback mit 192 Seiten, Format: 145 x 220 mm
ISBN 978-3-95749-023-0
In der Mitte Berlins wächst ein riesiger Rohbau in die Höhe: es ist die Grundform eines Bauwerks, das die einen „das Schloß“ und die andern Humboldt-Forum nennen. Seine Inhalte werden vielfältig und weltumspannend sein, Grundriß und Außengestalt lehnen sich an den stadtprägenden Großbau an, der hier vor dreihundert Jahren unter Leitung eines genialen Baumeisters entstand – ist das zulässig? Darf man verlorene Bauwerke von zentraler städtebaulicher Bedeutung wiedererrichten?
Iterationen sind nicht nostalgisch, da sie der alten Form neue Funktionen zuordnen, sie sind zukunftsorientiert, indem sie Kulturerbe sinnfällig machen und dem Furor der Vernichtung entgegentreten, der dem Fortschrittsdenken der Moderne verhängnisvoll eingepflanzt ist. Von Nachhaltigkeit, einem alten forstwirtschaftlichen Begriff, ist heutzutage viel die Rede. Dieckmanns Buch votiert für die Nachhaltigkeit des Schönen, für die Wiedervergegenwärtigung des Gelungenen, nicht, weil die Architektur der Gegenwart es kopieren, sondern weil sie sich dessen Anspruch stellen sollte.
I
Friedrich von Müller, der Kanzler des Großherzogtums Sachsen-Weimar, hat das Wort überliefert – ist es ein Losungswort für das Richtfest jenes Doppelwesens, das den Namen Berliner Schloß/Humboldt-Forum trägt und im Juni die Krone der Zimmerleute und Betonbauer aufgesetzt bekommen soll? Der vierundsiebzigjährige Goethe hat es gesprochen: „Es gibt kein Vergangnes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet, und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neues Beßres [zu] erschaffen.“1
Ein Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet – eben dies wird der Großbau sein, der schon in seiner jetzigen grauen und rohen Erscheinung kraft des Maßgerechten seiner Fronten, Fenster, Portale ein Bild der Verheißung bietet. Es ist ein Neubau, natürlich, neuen Zwecken und Funktionen dienend, deren Mischung man einzigartig nennen kann. Die außereuropäischen Sammlungen der Staatlichen Museen, viele Jahrzehnte lang an der Peripherie der Stadt untergebracht und nun ins Zentrum tretend, finden sich unter einem Dach mit den Sammlungen der Berliner Humboldt-Universität, die ihren Ausgang von der Kunst- und Raritätenkammer im Schloß der Hohenzollern nahmen; hinzu tritt ein Sprachen-Projekt der Berliner Stadt- und Landesbibliothek und ein musealer Trakt zur Erhellung der politischen und ästhetischen Geschichte jenes Schlosses, dessen barocke Gestalt, zwischen 1698 und 1713 von drei Baumeistern geschaffen, sich im Äußeren und im Inneren des Baus mit handwerklicher Akribie erneuert. Das Erneuerte und das Neue – ein Widerspruch, ein Kontrastprogramm? Es ist ein dialektischer Widerspruch, der hier Gestalt wird; er muß seine Auflösung im Benutzer finden.
Merkwürdig genug: unsere von Widersprüchen, Kontrasten, Ungleichzeitigkeiten und Unstimmigkeiten zerrissene Welt präferiert im Blick auf die Architektur das Homogene, Einheitliche, nichts als Gegenwärtige und stellt ihm das nichts als Alte als das authentische Baudenkmal frontal gegenüber. Es bedarf dann oft des Einspruchs von außen, von Bürgerinitiativen, die in tatkräftigen Einzelnen Stimme und Gewicht gewinnen, um den engen Kreis fachlicher Vorurteile aufzusprengen, bauliche Ziele absteckend, die neue Horizonte eröffnen, indem sie das Versunkene und Zerbrochene als wirkendes Moment einer Gegenwart ins Spiel bringen, deren technizistische Monomanie wesentliche ästhetische Bedürfnisse unbefriedigt läßt. Was Ernst Bloch als den utopischen Impuls großer Kunstwerke erkannte, als etwas Unabgegoltenes, das verschüttete Dimensionen menschlicher Existenz freilegt, zeigt sich auch und gerade an architektonischen Gestalten wie den hier wieder zum Leben erweckten. In ihnen verband sich die Machtdemonstration eines jungen, progressiven Königtums mit einem Willen zum Glückhaft-Lusterfüllten, wie es der bürgerlichen Epoche und ihrer Nachfolgerin, der kleinbürgerlichen, programmatisch abhanden kam. Es ist die eklatante Lustfeindlichkeit dessen, was wir immer noch Moderne nennen, obwohl es schon lange nicht mehr zeitgemäß ist, die gläserne Kälte und himmelstürmende Hybris einer Weltsicht, die dem puritanischen Geist gottgefälligen Maximalprofits immer gewaltigere Tempel baut, was ein Bauwerk wie dies geplante und nun schon erkennbare in den Rang einer humanen Notwendigkeit, eines unerläßlichen Gegengewichts hebt. Sein genauer Gegenpol, eine Architektur von hoher Signifikanz, ist gerade am Rande von Frankfurt am Main fertig geworden: der schief abgebrochene Eisberg des neuen Hauptsitzes der Europäischen Zentralbank, eine Adaption des aufgegebenen Turms zu Babel von hoher symbolischer und ästhetischer Wirkkraft. Das Berliner Museumsschloß mit seinen in weite zeitliche wie geographische Fernen greifenden Beständen und Intentionen bezeichnet eine Gegenwelt, es lädt zur produktiven Versenkung in die Werke, die Hinterlassenschaften von Zeitaltern ein, in denen die Arbeit der menschlichen Hand den Dingen des All- wie des Festtags eine Personalität übertrug, die das Einzelne zum Einzigartigen machte.
Das gilt auch von den barocken Fassaden, die, auf Ziegelmauern aufgetragen, dieses Haus von außen umschließen werden; sind sie das großartigste Exponat des künftigen Museums? Aber sie sind kein Museumsstück, sondern greifen unmittelbar ins Gegenwärtige ein, als ein Fingerzeig sinnvoller Entschleunigung, gestalthafter Differenzierung. Im Mai 1993 hielt Peter Sloterdijk in dem von Volker Hassemer, dem damaligen Stadtentwicklungssenator, berufenen Berliner Stadtforum einen Vortrag über seine Vorstellungen von einem künftigen Bau auf der zentralen Fläche von Hohenzollernschloß und DDR-Palast. Was ihm in architektonischen Formen vorschwebte, die zur Demokratie verführen sollten wie I. M. Peis Neubauflügel des Nationalmuseums von Washington, war ein „Gesellschaftsobservatorium für das 21. Jahrhundert“, ein „Reiz-Zentrum für gesellschaftliche Lernprozesse“ in einer Zeit, da unsere Gesellschaft „in eine synchronweltliche Seinsweise“ eintrete.2 Es werde, meinte der Gast aus Karlsruhe, „wenig gewettet darauf, daß es mit dieser Gesellschaft noch gut geht, wenn sie nicht klüger wird, als sie jetzt ist“. „Ein Haus dieser Größenordnung könnte als so etwas wie ein Wettbüro der Intelligenz sich empfehlen, ... eine Art geistiges World Trade Center“, ein Gebäude, „das die Herausforderung der Synchronweltzeit im Augenblick ihrer Formulierung erfaßt.“
Diese weitreichende Vorgabe ist in die Ausschreibung des Spreeinselwettbewerbs von 1993 nicht eingegangen, auch danach ist nicht wieder von ihr die Rede gewesen. Aber was Hegel die List der Vernunft nannte, hat auf Umwegen etwas zutage gefördert, was vermöge einer musealen Globalisierung, die vom nahen und fernen Osten über die Eilande des Stillen Ozeans bis zu den beiden Amerika reicht, dieses Synchronweltliche im neuen Humboldt-Forum tatsächlich realisiert: Weltkultur als Anschauung und Verpflichtung. Und wenn es gelingen sollte, dem Haus einen Intendanten zu geben, der, mit einem entsprechenden Etat ausgestattet, aus der Fülle der Exponate ein lebendiges Weltwissen in Bewegung zu setzen vermag, dann hätten wir, mit unmittelbarem Anschluß an vornehmstes europäisches Architekturerbe, jenes Reizzentrum für gesellschaftliche Lernprozesse, das Sloterdijk vor zwanzig Jahren vorschwebte. „Die übergreifende Idee“, so Peter-Klaus Schuster vor der Kommission des Jahres 2001, „ist nichts weniger als ‚die Erfahrung der Welt‘.“3
Was für das Humboldt-Forum, den noch unfertigen Einzelbau, gilt, das gilt in anderer Weise für jenes komplexe städtebauliche Kunstwerk, das der Dresdner Neumarkt vorstellt, in der Verbindung einer einzigartigen Kirche mit einer in den alten Strukturen, vielfach auch mit den alten Fassaden variativ erneuerten Umgebung. Wo so viele bauen, und jeder auf eigene Faust, kann nicht alles gleich gut, gleich gelungen sein. Es kam vor, daß ein partielles Mißlingen das partielle Gelingen antwortend auf den Plan rief – ein noch keineswegs abgeschlossener Prozeß, der vor fünfzehn Jahren unter lebhafter Anteilnahme einer interessierten Öffentlichkeit in Gang gesetzt wurde; er hat einen innerstädtischen Ort von faszinierender Lebendigkeit hervorgebracht. Soll man das Wort vom Phönix berufen, der aus der Asche erstand? Der Phönix, dem dies geschah, ist ein neuer; alle Insinuationen, es handle sich um Täuschung, „Fake“, Kulissen, gehen an der lebendigen Schönheit dieser Erneuerung ins Leere. Der alte Neumarkt mit den Häusern und Palästen des 18. Jahrhunderts war ein ehrwürdiger, aber kein glanzvoller Ort; wie in vielen andern deutschen Altstadtquartieren hatten Verfall und Armut an den alten Häusern genagt. Anders der neue Neumarkt, von dem etwas Festliches und Freudiges ausgeht, das auch die entwaffnen sollte, die ihm das Denkmalschutzpanier der ungeschmälerten Authentizität entgegenhalten.
Die es hissen, schätzen die alten Formen um ihres Vergangenseins willen; worauf es ankommt, ist, sie als wirkend-gegenwärtige zu begreifen. Genau das tun alle, die sich flanierend dieses wahrhaft urbanen Ortes bemächtigen. Sie erleben eine Wiederaufführung unter den Auspizien einer Zeit, die es gelernt hat, auch auf dem Feld der Architektur die Erneuerung eines großen Kulturerbes als etwas Zulässiges und in bestimmten Fällen Notwendiges zu begreifen: „Alte Werke auf neuen Intrumenten spielen“.
II
So lautet der Titel des letzten der in diesem Buch vereinigten Texte, sie gliedern sich in zwei Teile. Im ersten spannt sich der Bogen der Betrachtung von Schlüter und Eosander über viele Zwischenstationen bis zu einer Gegenwart, die im Zeichen Franco Stellas, des Architekten, und Manfred Rettigs, des obersten Bauleiters, steht, eines Mannes, der für die schwersten und kompliziertesten Aufgaben immer wieder der rechte war: den Umbau des Reichstags, den Umzug von Parlament und Regierung, nun den Bau dieses vielgliedrigen Kolosses. Dem geschichtlichen Kursus folgt ein Kommentar zu dem Votum jener im Jahre 2000 von Bundes- und Landesregierung berufenen Kommission, die die Weichen für Inhalt, Form und Namen des Bauwerks stellte, zu einer Empfehlung, die das deutsche Parlament in zwei fraktionsoffenen Abstimmungen eindrucksvoll beglaubigte; heftige und manchmal noch heute nachzüngelnde Debatten schlossen sich an. Dem Autor, der sich während der neunziger Jahre für den Erhalt des Palastes der Republik eingesetzt hatte, auch als Gutachter vor dem Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestags, bei dem – und nicht bei der Regierung – die Finanzierung des Abrisses lag (ich gab jener Collagen-Lösung den Vorrang, die Frank Augustin und Goerd Peschken 1991 vorgetragen und Wilhelm von Boddien bald darauf in Gestalt einer großartigen Kulisse veranschaulicht hatte), – dem Autor liegt es an dieser Stelle nahe, einen Blick auf seine eigene Position in dieser Kommission zu werfen. Bei der Suche nach der angemessenen Lösung war für mich die Irrealität der Vorstellung ausschlaggebend, daß der Bundestag den Wiederaufbau der Ruine finanzieren werde, zu der der DDR-Palast durch die Ende 1998 vertraglich fixierte und 1999 begonnene Totalsanierung geworden war.4 In dieser Lage konnte nur die Erneuerung des Schlüter-Eosander-Baus die Lösung sein. Es galt, die gute moderne Lösung, die der DDR-Palast an dieser Stelle gewesen war, durch die bessere historische Lösung zu ersetzen – besser auch insofern, als sich die städtebauliche Position des Schlosses im Gegensatz zu der des Palasts bewährt hatte. Es war aber untunlich, die äußere Gestalt des Schlosses nach Lage und Volumina wiederherzustellen (darüber herrschte in der Kommission weitgehendes Einvernehmen, die entsprechende Empfehlung fand eine Mehrheit von 12:3 Stimmen) und ihr die historischen Fassaden vorzuenthalten. Der phantastische Vorschlag des Büros gmp aus dem Jahre 2000, diese Fassaden auf den wiederhergestellten Schloßkorpus mit technischen Mitteln zu projizieren, hatte das sonderlich deutlich gemacht.
Die Moderne hatte auf diesem Platz ihre Chance gehabt und sie nach Form und Inhalt – der große Saal war ein technisches Meisterwerk, das seinesgleichen suchte – auf hohem Niveau wahrgenommen; wie unfruchtbar es war, nach einer neuen, nur eben um 90° versetzten zeitgenössischen Lösung Ausschau zu halten, lag auf der Hand. Es war durch den gigantischen Spreeinselwettbewerb von 1993/94 gleichsam empirisch belegt worden, dessen Siegerentwurf nachmals auch von denen keiner Erwähnung für wert befunden wurde, die nachdrücklich für eine zeitgenössische Lösung plädierten, zugleich aber, wie die Architekturabteilung der Akademie der Künste, den bis 1998 vorhandenen Palast überhaupt nicht in Betracht zogen. Die Auslober, Bundes- und Landesregierung, hatten dem Wettbewerb von 1993 den Abriß des Palastes derart peremptorisch zugrunde gelegt, daß die Jury den relevanten Entwurf von Oswald Mathias Ungers, der den Palast der Republik in eine das ganze, von dem Palast nur zur Hälfte eingenommene Schloßareal umfassende Bebauung integriert hatte, mit dem 4. Platz abfand. Auch das ehemalige Staatsratsgebäude, ohne dessen Räumlichkeiten dieser Wettbewerb gar nicht hätte stattfinden können, war in der Auslobung von 1993 zum Abriß freigegeben.
Zu den Voten der Kommission, die im April 2002 ihre Arbeit beendete, gehörte die entschiedene Befürwortung des Erhalts des Staatsratsgebäudes einschließlich des mit ihm verbundenen sog. Liebknecht-Portals (Schloßportal IV) ebenso wie des Marx-Engels-Forums mit allen seinen Skulpturen. Sie plädierte auch für die Rückführung des Schlüterschen Reiterdenkmals des Großen Kurfürsten an die von Schlüter realisierte Stelle, eine Plattform an der späteren Rathausbrücke, und für die Rekonstruktion der Schinkelschen Bauakademie. Mit den Mitgliedern Peter Conradi, Franziska Eichstädt-Bohlig und Bruno Flierl gab ich ein Minderheitsvotum gegen eine Bebauung der alten Stechbahn ab, die den Blick auf das Staatsratsgebäude verstellt hätte; in der Ablehnung einer dort nachmals vorgesehenen Konzernrepräsentanz setzte sich dieser Standpunkt Jahre später nach langen Berliner Debatten durch. Es gelang nicht, die drei genannten und einige andere Mitglieder in eine gemeinsame Position zur Architektur des künftigen Forumsgebäudes einzubeziehen, was dazu führte, daß ich zusammen mit Goerd Peschken, dem eminenten Schloßkenner, die Formulierung der Vorlage und ihrer Begründung in die Hand nahm, die sich in der Abstimmung mit 8 : 7 Stimmen durchsetzte (s. Anm. 36, S. 178). Zugleich wurde mit 10 :3 bzw. 8 : 6 Stimmen (es gab auch Enthaltungen) „die Wiedererrichtung einiger Innenräume und – in Abhängigkeit von der Nutzung – die Einhaltung der alten Geschoßhöhen“ empfohlen. Daß es nicht gelang, dem Erhalt der Ostfassade des Palastes eine Mehrheit der abstimmenden Mitglieder zu gewinnen (die Empfehlung wurde mit Stimmengleichheit abgelehnt), habe ich damals bedauert; ihre collagenhafte Einbeziehung hätte das Disparate des Abrisses gemildert. Allerdings wäre der einem künftigen Architekten gegebene Spielraum dadurch noch weiter, und eigentlich unzumutbar, eingeengt worden.
Dem Kommentar jenes Votums folgt eine Intervention aus der Zeit, da der Abbruch der Rohbauruine des alten DDR-Palasts bevorstand, ohne daß die Errichtung des Nachfolgebaus sichergestellt gewesen wäre. Unter den Auspizien der rot-grünen Koalition drohte an der zentralen Stelle eine jahrzehntelange grüne Wiese wie nach dem Schloßabriß von 1950 die graue Steinfläche des Demonstrationsplatzes. An die zur zeitweiligen Nutzung freigegebene Sanierungsruine heftete sich in dieser Zeit die entfesselte Spiellust einer jungen Generation, und wenn es nach manchen Kommentatoren gegangen wäre, so wäre daraus eine Dauerlösung abgeleitet worden: der entkernte Palast als Spiel- und Begegnungsstätte bürgerschaftlicher Selbstverständigung. Die Zwischennutzung, schrieb Thomas Flierl im Rückblick, „ermöglichte dem Gebäude, was ihm durch übereilte Schließung versagt wurde, teilzunehmen am Bedeutungswandel der Zeit – durch veränderten Gebrauch. Temporäre Kunstprojekte provozierten so eine Neuinterpretation des Ortes jenseits von Palast und Schloß, halfen Abschied zu nehmen vom Gestern und Vorgestern, forderten die Fähigkeit der bundesdeutschen Gesellschaft heraus, zukunftsgerichtete Projekte mit offenem Ausgang anzugehen.“5 „Unter dem Label ‚Volkspalast‘“, schrieb Wolfgang Kil in derselben Publikation, „nahm man sich die Freiheit, die teuerste Ruine Deutschlands schlicht als das zu begreifen, was sie de facto wieder war – ein Rohbau: Gerüst und Material, Bühne und Kulisse für frische Ideen und unverhoffte Wahrnehmungen. Gegen den Bilderkult der Schloßfraktion setzten die ‚Zwischennutzer‘ ihre auf Neugier und Abenteuer gründende Praxis. Sie tanzten, spielten Theater, veranstalteten Funsport-Meisterschaften, fluteten das Erdgeschoß zu einer nur per Schlauchboot erfahrbaren Wasserstadt.“6
„Wenn dieses Projekt sich durchsetzt“, warf damals der Soziologe Werner Sewing ein, „wäre Berlin die einzige Weltstadt, die sich mitten in ihrem heiligsten Herzen einen Ort der Anarchie und Subkultur leistet.“ Und in der Tat: inspirierende Provisorien – das Tacheles in Berlins Oranienburger Straße hatte es gezeigt – kann man nicht unbegrenzt verlängern. Gerade die absehbare Begrenztheit der Inbesitznahme dieses im Vergehen wie neugewordenen Bauwerks hatte den Überschwang der Einfälle entfacht. Dem Abriß selbst, einem die Stadtmitte erschütternden Vorgang, Umkehrung jenes Aufbauprozesses, den die Bewohner jener Gegend fünfunddreißig Jahre vorher mit angesehen hatten, setzten Reynold Reynolds, der Photograph, und Gerhard Falkner, der Dichter, ein Denkmal eigener Art, das auf Filmaufnahmen vom Abbruchprozeß beruhte.7 „Es wird schwer sein, mich zu vergessen, jetzt wo ich nicht mehr da sein werde“, ließ der aus Schwabach stammende Falkner das Bauwerk sagen: „Meine Anwesenheit in der Abwesenheit wird nachklingen.“ „Karthago“, schloß er, „ist auch nicht an einem Tag zerstört worden.“
Was dann folgte, die Ausschreibung eines Wettbewerbs nach den Vorgaben des Bundestags, die 2007 durch eine Parlamentsentscheidung der schwarzgelben Regierungskoalition ergänzt worden waren (sie legte die Einbeziehung einer Kuppel über dem Westportal fest), hat Thomas Flierl in dem von ihm und Hermann Parzinger, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, herausgegebenen Band Humboldt-Forum Berlin / Das Projekt beschrieben, in einem Rückblick auf die einzelnen Phasen dieses von widerstreitenden Kräften hin und her gerissenen Prozesses, auch auf die Arbeit jener Internationalen Kommission, die ein Jahr lang über Nutzungen, Finanzierung und Namen des präsumptiven Gebäudes geratschlagt und nicht nur den Hauptbau, sondern auch das ganze umgebende Areal begutachtet hatte. Nach der Auslobung des Realisierungswettbewerbs wurde 2008 eine vom Bund berufene Stiftung zum Träger des Gesamtprojekts berufen, in deren Auftrag Manfred Rettig das Baugeschehen leitet; Hand in Hand mit ihr betreibt der von Wilhelm v. Boddien, dem unermüdlichen Vorkämpfer der Schloßerneuerung, gegründete Förderverein das Einwerben von Spenden für die Wiedergewinnung der barocken Fassaden. In der Spandauer Schloßbauhütte erstehen ihre dreitausend Einzelteile mit aller handwerklichen und wissenschaftlichen Sorgfalt.
III
Im zweiten Teil des Buches kommt aus verschiedenen Blickwinkeln ein Problem in Sicht, das von Anfang an auch die Schloßdebatte bestimmt hat: die Frage nach Sinn und Zulässigkeit von Rekonstruktionen nicht nur als Wiederaufbau stehengebliebener Mauerreste (auch das war bis in die neunziger Jahre bei deutschen Denkmalpflegern umstritten), sondern als Neubau auf der authentischen, aber leergeräumten oder leerzuräumenden Fläche. Das Wort Rekonstruktion ist an dieser Stelle nur bedingt tauglich, da es jeglichen Wiederaufbau umfaßt; darum ist hier für den vollständigen Neubau verlorener alter Architekturen der Terminus Iteration, also Wiederholung, in Vorschlag und Anwendung gebracht.
Der den Anfang dieses Teils machende Aufsatz „Kann man Städte heilen?“ reagierte auf die polemische Attitüde, mit der in akademischen und medialen Debatten gegen solche Iterationen zu Felde gezogen wurde. Was hier und in den folgenden Texten in der Auseinandersetzung mit widerstreitenden Positionen vorzubringen war, ist im Sommer 2010 durch eine große Münchner Ausstellung und den sie begleitenden Katalog auf umfassende Weise bekräftigt worden. Iterationen wurden hier für den fernöstlichen Kulturraum als eine althergebrachte, auf einem zyklischen Zeitverständnis beruhende Praxis beständiger, gleichsam ritueller Wiederholung (japanisch fukugen) dokumentiert, was sie im schon vom Material her – Stein statt Holz – anders fundierten europäischen Bereich nicht sein können. Doch habe es, merkte Heinrich Magirius an, auch in der griechischen Antike „die mehr oder weniger getreue Nachbildung zerstörter Bauwerke, stilangleichender Zubauten oder den Ersatz von fehlenden Partien im historischen Stil“ gegeben.8 Aleida Assmann lenkte in ihrem Katalogbeitrag den Blick außer auf Dresdner und Warschauer Wiederaufbauten auf das Schwarzhäupterhaus in Riga, dessen Kriegsruine 1948 abgetragen worden war; der berühmte Bau war nach der Wiedergründung eines unabhängigen Lettlands nicht aus dem Nichts (es waren Relikte aller Art geborgen worden), aber auf der seit langem applanierten Fläche wiederaufgebaut worden. In demselben Zeitraum vollzog sich in Moskau der Neubau der 1931 auf Stalins Geheiß vernichteten Christus-Erlöser- Kathedrale von 1883. Die Autorin verwies auf das veränderte Verhältnis zur Zeit, zum Begriff des Fortschritts, der sich in solchen Erneuerungen bekunde: „Der Blick wendet sich ab von der Zukunft als dem Generalversprechen des Neuen und konzentriert sich auf die Möglichkeit der Wiederherstellung und Erneuerung von Vergangenem. ... Die Geschichte wird unter diesen Umständen nicht mehr im Bilde eines irreversiblen Zeitpfeils auf einer linearen Achse betrachtet.“9 Die Emanzipation von jenem einsinnigen Geschichtsverständnis, das die Philosophie der proletarischen Revolution etabliert hatte, kann auch an der zeitgenössischen Architektur nicht vorübergehen, deren programmatischer Bruch mit den Orientierungslinien der Tradition in einem geheimen Einverständnis mit den Stadtverwüstungen des Bombenkriegs zu stehen schien. Was auf den so geschaffenen und bald beräumten Freiflächen entstand, waren in Ost und West urbanistische Alpträume.
Heinrich Magirius, der Dresdner Denkmalpfleger, gab in seinem Katalogbeitrag eine Übersicht über die Leistungen der Denkmalpflege bei Wiederaufbauten im östlichen und im westlichen Nachkriegsdeutschland, ohne die Differenzen zu übergehen, die sich nach der deutschen Staatsvereinigung im Blick auf anstehende Großprojekte ergeben hatten; sie kulminierten in einer Erklärung der 1991 vereinigten deutschen Landeskonservatoren, die die Mitwirkung der Dresdner Denkmalpfleger am geplanten Wiederaufbau der Frauenkirche implizit mißbilligte. „Von mehreren Kunsthistorikern und Denkmalpflegern“, so Magirius, „wurde dem Wiederaufbau der Frauenkirche eine restaurative, der demokratischen Verfassung der Bundesrepublik schädliche Ideologie unterstellt.“10 Was hier gegeneinander antrat, war jenes einsinnige, lineare Zeitverständnis, das als Materialkult große Teile der deutschen Denkmalpflege bis heute bestimmt (der Prozeß der Verwitterung oder gar Zerstörung wird als „authentisch“ sanktioniert und für so schützenswert erachtet wie das Objekt, an dem er angreift), gegenüber einem komplexen, antilinearen Zeitverständnis, das sich im östlichen Deutschland aus der Einsicht in die innere Brüchigkeit einer Moderne entwickelt hatte, deren politische Seite dort zu einer staatsideologischen Fiktion geronnen war; der grassierende Verfall wertvoller alter Stadtviertel hatte bei ihrem Sturz die Rolle eines Katalysators gespielt. In dem Postskriptum zu einem Text, der 1995 in die Diskussion um die künftige Wiederherstellung des Dresdner Neumarkts eingegriffen hatte („Im Umkreis zweier Stadtsymbole“), wird im zweiten Teil dieses Buches die Metakritik an einer denkmalpflegerischen Orthodoxie vorgetragen, die sich weit von den Anforderungen der Zeit entfernt hat.
Was Denkmalschutz sein muß und woran er von willkürlich eingreifenden Staatsinstanzen oft in einer Weise gehindert wird, daß nur die Mobilisierung der Öffentlichkeit einen nicht wieder gutzumachenden Schaden abwenden kann, davon spricht in diesem zweiten Teil ein Aufsatz, der 2008 in einer stante pede erarbeiteten Broschüre Platz fand, die als ein publizistischer Notruf ihren Teil dazu beitragen mochte, daß die Zerstörung der Innenarchitektur der Staatsoper Unter den Linden abgewendet werden konnte.
Am Ende dieses zweiten Teils steht ein Beitrag, der, von einer Tagung der Salzburger Universität veranlaßt, zusammenfaßt, was in den schwergetroffenen Städten Europas Iterationen nicht nur zu etwas Zulässigem, sondern zu etwas Gebotenem macht. Nicht der statische Begriff der Identität kommt dabei ins Spiel, sondern der dynamische des Kulturerbes. In einer Zeit rasender Veränderungen an der technologisch-kommunikativen Basis der Gesellschaft ist die Vergegenwärtigung dessen, was vergangene Zeitalter zum Fundus ästhetischer Selbstverwirklichung des Menschen beigetragen haben, wichtiger denn je. Was uns auf vielen Feldern als zeitgenössisch vor Augen geführt wird, trägt auch dann, wenn es mit ästhetischer Kompetenz einherkommt, Indizien avancierter Regression; man muß in das Zeitalter der Pyramiden zurückgehen, um ein Maß für den 828-Meter-Turm von Dubai zu finden, und wird in der Architekturgeschichte auch nicht leicht ein Gegenstück zu der monströsen Monotonie der neuen Berliner Geheimdienstzentrale finden, des teuersten aller neueren Berliner Staatsbauwerke. Niemand weiß, wohin die Reise geht; das Anthropozän, das als ihr Ziel angegeben wird, erscheint als eine ihren natürlichen Bedingungen total entfremdete Welt. Von einem „geopathischen Trainingszentrum“ träumte einst Peter Sloterdijk im Blick auf Berlins künftigen Zentralbau. In der Wiedergewinnung großer Leistungen von einst liegen unverzichtbare Potentiale des Ausgleichs.
1 Kanzler von Müller: Unterhaltungen mit Goethe, hg. von Ernst Grumach, Weimar 1959, S. 84.
2 Dokumentation 29. Sitzung Stadtforum, 14. Mai 1993 (im Internet unter Stadtforum Berlin – Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt).
3 Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin, Materialien (Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen / Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, April 2002), S. 47.
4 Nach deren Verkündung schrieb ich in einem Aufsatz über „Maß und Form im neueren Berliner Bauen“: „Der architektonische Wert des Volkspalasts ist unvergleichlich geringer als der des untergegangenen Schlüter-Schlosses. Dennoch wird man, wenn der People’s Palace dann pünktlich zum Staatsjubiläum [1999] demoliert ist, eines wissen: daß man aus der Geschichte nichts gelernt hat.“ (Merkur Nr. 596, November 1998, S. 1014) Die damals vorherrschende Ansicht, es handle sich bei der Asbestverunreinigung des Palastes um einen politisch übertriebenen Befund, wurde im Verlauf der Abrißarbeiten entkräftet. Manfred Rettig berichtet, daß in Gesprächen mit ihm auch Heinz Graffunder, der Architekt des Palastes, auf den hohen Grad der Asbestverwendung bei dessen Bau hingewiesen habe; die Konsequenzen für das Gebäude seien ihm klar gewesen.
5 Thomas Flierl: Der Internationale Realisierungswettbewerb 2008. Vorlauf, Verfahren, Ergebnis, in: Humboldt-Forum Berlin / Das Projekt, Berlin: Theater der Zeit 2009, S. 57.
6 Wolfgang Kil: Volkspalast. Der vergebliche Traum vom Republikanischen Forum, ebd., S. 122.
7 Gerhard Falkner / Reynold Reynolds: Der letzte Tag der Republik. The Last Day of the Republic. Deutsch-englische Ausgabe mit DVD, Nürnberg 2011.
8 Heinrich Magirius: Rekonstruktion in der Denkmalpflege, in: Geschichte der Rekonstruktion / Rekonstruktion der Geschichte, hg. von Winfried Nerdinger, München u. a. 2010, S. 149.
9 Aleida Assmann: Rekonstruktion – die zweite Chance oder Architektur aus dem Archiv, ebd. S. 16. 10 Ebd. S. 154.
10 Ebd. S. 154.
Berlin-Treptow, am 13. Februar 2015
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Vom Schloss der Könige zum Forum der Republikvon Friedrich Dieckmann | Seite 6 |
Erstes Hauptstück | |
Vom Schloß der Könige zum Forum der Republikvon Friedrich Dieckmann | Seite 17 |
Schloß, Palast, Humboldt-Forumvon Friedrich Dieckmann | Seite 42 |
Was Schloß und Palast verbindetvon Friedrich Dieckmann | Seite 51 |
Erneuerung und ErbeErneuerung und Erbevon Friedrich Dieckmann | Seite 53 |
Bildteil | Seite 62 |
Zweites Hauptstück | |
Kann man Städte heilen?von Friedrich Dieckmann | Seite 81 |
Stadterhaltung als Kulturaufgabevon Friedrich Dieckmann | Seite 98 |
Im Umkreis zweier Stadtsymbolevon Friedrich Dieckmann | Seite 111 |
Bauen in zerstörten Städtenvon Friedrich Dieckmann | Seite 129 |
Sanieren oder demolieren?von Friedrich Dieckmann | Seite 139 |
Alte Werke auf neuen Instrumenten spielenvon Friedrich Dieckmann | Seite 148 |
Epilog | Seite 161 |
Der Bär und das Tor oder Die symbolische Stadtvon Friedrich Dieckmann | |
Anhang | |
Anmerkungenvon Friedrich Dieckmann | Seite 177 |
Erstveröffentlichungen | Seite 190 |
Impressum | Seite 192 |
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Zum Autor

Friedrich Dieckmann
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Bibliographie
Beiträge von Friedrich Dieckmann finden Sie in folgenden Publikationen:

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Über Theater und Polizei

Heft 10/2020
House of Arts
Über Macht und Struktur am Theater

Heft 03/2020
Russian Underdogs
Victoria Lomasko und Kirill Serebrennikov
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