Ein sozialistisches Faust-Bild
von Guido Böhm
1. Politische Ziele
Schon im Kaiserreich beginnen auch linke Politiker ihre Auslegung des Klassikers zu entwerfen.53 Die Überschätzung des Faust in Bezug auf sein Potential als soziales Erziehungsinstrument erreicht aber erst in der DDR ihren historischen Höhepunkt. Dort präsentiert sie sich quasi als Spitze eines ideologischen Apparats zum Aufbau einer neuen Gesellschaft, dessen massiger Unterbau durch das politisch-intellektuelle Experiment eines großangelegten Einsatzes des sogenannten kulturellen Erbes gebildet wird.54

Die deutschen Kommunisten, die 1945 aus dem Exil nach Ost-Berlin zurückkehren, imitieren in ihrer Kulturpolitik, die über Jahrzehnte wesentlicher Bestandteil des parteilichen Selbstverständnisses der späteren SED sein sollte, gezwungenermaßen ein sowjetisches Vorbild. Das sich entwickelnde Kulturprogramm der jungen DDR kann, wie das der UdSSR, als Versuch eines präzise ausformulierten Plans kollektiver Identitätskonstruktion verstanden werden. Es betrachtet seine Gegenstände Literatur und Kunst unter der Prämisse ihrer Nützlichkeit zum Erreichen politischer Zielsetzungen. Durch die Vermittlung ideologischer Inhalte über den Weg kultureller, national aufgeladener Bezugsgrößen wird versucht, ein dem Staat und seinen Auffassungen günstig gestimmtes Kollektiv in der Bevölkerung zu erzeugen. Der Terminus „kulturelles Erbe“ bezeichnet dabei faktisch ein rein theoretisches Konstrukt, das von marxistischen Intellektuellen im Grunde genommen willkürlich definiert wird.55 Die Debatte um das Erbe legt inhaltlich einen präzise abgegrenzten Kulturkanon für die sozialistische Gesellschaft als wertvoll fest, sie integriert bestimmte Kunstwerke als Messwerte, indem sie gleichzeitig andere als ungeeignet, ja schädlich für die sozialistische Idee aussortiert. Definiert wird, welche kulturellen Einheiten insbesondere der nationalen Historie „erbenswert“ sind, bewahrt werden sollen und damit Richtwertcharakter verdienen und welche nicht „erbenswert“ und als zersetzend für die imaginierte Gesellschaft befürchtet werden müssen. So gehört etwa Schiller per definitionem zum bewahrenswerten kulturellen Erbe, Nietzsche hingegen nicht. Ein einmal derartig definiertes Erbe verschafft grundsätzliche Annahmen über die Rechtschaffenheit oder Verwerflichkeit jeglichen künstlerischen Ausdrucks. Zurückführen lässt sich der Begriff des kulturellen Erbes auf Lenin, der sich in Bezug auf Engels ab 1905 mehrmals über die Funktion der Künste im Sozialismus geäußert hat. Zuerst fordert Lenin in seinem Aufsatz „Parteiorganisation und Parteiliteratur“, dass jede schriftstellerische Produktion „ein Rädchen und Schräubchen“, ein „Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinigten, sozialdemokratischen Parteiarbeit“ werden solle.56 Von Anfang an wird Kunst also in die Pflicht genommen, eine politische Leistung zu erbringen oder zumindest dazu beizutragen. Diese Grundannahme Lenins, die die Künste letztlich auf einen instrumentalisierten Gebrauch im Dienste der Ideologie reduziert, beeinflusst alle späteren Ausdifferenzierungen des Themas.57 Nach der Oktoberrevolution kommt es im soeben entstandenen Sowjetrussland zu ausgedehnten Debatten, die die Funktion von Kunst in der neuen revolutionären Gesellschaft festzulegen suchen.58 Lenins „realpolitische“59 Empfehlung fordert hier „die Übernahme des in der bürgerlichen Gesellschaft entstandenen Erbes“.60 Sie geht Hand in Hand mit der sich verdichtenden Idee, der Realismus sei „die dem dialektischen Materialismus am meisten entsprechende Darstellungsweise“.61 Andrej Schdanow, Sekretär des ZK der KPdSU, fordert von den Künstlern die Darstellung von „Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung“.62 Diese Betrachtungsweise kumuliert dann im „kulturpolitischen Losungswort“63 des sogenannten sozialistischen Realismus, der, ab 1932 in die Debatte gebracht, als Sammelbegriff und Programm für die geeignete künstlerische Darstellungsform im Sozialismus verwendet wird. Die Genese und erste Definition dieses Begriffs verbindet sich gleichfalls von Anfang an mit der Idee eines politisch-erzieherischen Auftrags. Die sowjetischen Vorbilder nachahmend fundiert Johannes R. Becher zu Beginn der 1930er Jahre die Auffassung, den „klassischen Gedanken […] der klassischen Dichtung […] denen zu übergeben, die die Zukunft in ihren Händen tragen, den deutschen Arbeitern.“64