Magazin
Lernen aus dem Lockdown? Nachdenken über Freies Theater. Hg. für das NRW-Kultursekretariat von Haiko Pfost, Wilma Renfordt und Falk Schreiber, Alexander Verlag, Berlin 2020, 229 S., 14 Euro.
von Martin Krumbholz
Auffallend oft ist in diesem Band von Vulnerabilität, zu Deutsch Verwundbarkeit, die Rede. Der Schweizer Autor und Regisseur Boris Nikitin beschreibt den Akt der Selbstveröffentlichung, das „Outing“, als gemeinsamen Kern jeder öffentlichen Äußerung, egal ob persönlich oder künstlerisch. „Es ist eine Wette mit der Zukunft, ein Schritt ins Leere.“
Eine Wette mit der Zukunft – so ließen sich auch die Erfahrungen bezeichnen, die Kulturinstitute in aller Welt im Pandemiejahr 2020 gemacht haben.…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 1/2021
Auftritt
Theater an der Ruhr: „Europa oder die Träume des Dritten Reichs“ von Lars von Trier und Charlotte Beradt als Livestream. Regie Philipp Preuss, Bühne Ramallah Aubrecht, Kostüme Eva Karobath
von Martin Krumbholz
Sonntagabend. Totensonntag. Das Internet scheint etwas instabil, zu viele Leute gucken im Homeoffice „Tatort“. Das Theater an der Ruhr hat sich etwas Besonderes einfallen lassen: die Adaption eines Lars-von-Trier-Films als Livestream, gefilmt mit vier Kameras. Titel: „Europa oder die Träume des Dritten Reichs“. Der Monitor zeigt einen größeren Screen und drei kleinere. Unten links sieht man die Maskenbildnerei. Unten rechts kocht der Schauspieler Rupert J. Seidl Kartoffeln. Es gibt Gnocchi…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 1/2021
Magazin
Zum Tod des Dramatikers Karl Otto Mühl
von Martin Krumbholz
Es war seinerzeit, 1973, eine kleine Sensation. Der fünfzigjährige Wuppertaler Exportkaufmann Karl Otto Mühl, bislang kaum als Autor in Erscheinung getreten, schrieb ein Stück, das so präzise wie einfühlsam die höchst ungewöhnliche Romanze zwischen einem verwitweten Rentner und einer fünfzig Jahre jüngeren Küchenhilfe erzählt: eine zarte Liebschaft, die von den Angehörigen des alten Mannes beargwöhnt, kaum geduldet und letztlich sabotiert wird. „Rheinpromenade“ wurde von den Wuppertaler Bühnen…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 10/2020
Auftritt
Schauspielhaus Bochum: „King Lear“ von William Shakespeare in der Neuübersetzung von Miroslava Svolikova. Regie Johan Simons, Bühne Johannes Schütz, Kostüme Greta Goiris
von Martin Krumbholz
Harold Bloom, der große amerikanische Shakespeare-Forscher, ein fast unübertroffener Meister des „close reading“, meinte, unsere Epoche sei dem „King Lear“ nicht gewachsen. Und Bloom hat noch mehr Interessantes herausgefunden. Die Titelfigur des Dramas bezeichnet er fast wortwörtlich als die letztgültige Verkörperung des alten weißen Mannes. Wenn man bedenkt, dass das Stück in grauer Vorzeit spielt, Jahrhunderte vor Christus …
Als hätte Johan Simons in seiner Bochumer Inszenierung Bloom…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 10/2020
Künstlerinsert
Der Künstler Julius von Bismarck vergleicht sein Verfahren mit dem psychologischen Rorschachtest
von Martin Krumbholz
Es scheint nicht abwegig, angesichts der Feuer-Installation Julius von Bismarcks an einige Verse von Paul Celan zu denken: „Harnischstriemen, Faltenachsen, / Durchstich- / punkte: / dein Gelände.“ Der so wunderbar eigensinnige Dichter verwendet hier einige sinnlich aufgeladene, aber fremd klingende Begriffe aus der Geologie. Die rumorende Erde hat eine zerstörerische Kraft, Tsunamis entstehen bekanntlich durch bewegliche Gesteinsplatten. Das Gelände, das Julius von Bismarck vermisst, wenn…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 10/2020
Festivals
Der 30. Geburtstag des Festivals Impulse in Nordrhein-Westfalen fand coronabedingt größtenteils im Netz statt – zudem schmerzlich verkürzt
von Martin Krumbholz
Die sechs afrodeutschen Frauen, die Magda Korsinsky für ihre Installation „Stricken“ interviewt hat, haben weiße Großmütter. Der Titel verdankt sich der speziellen Textur der Leinwand, auf welche die Porträts der jungen Frauen projiziert werden. Sie sind aus Textilien gefertigt, die die Großmütter aus ihren Schränken geholt haben. Beim Betrachten der Videos – das Festival Impulse fand dieses Jahr coronabedingt in einer verkürzten Version online statt – drängte sich der Eindruck auf, dass die…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 9/2020
Thema: Martin Linzer Theaterpreis
Divers, aber nicht divergent und in jeder Hinsicht außergewöhnlich – Das mit dem Martin Linzer Theaterpreis ausgezeichnete Ensemble des Schauspielhauses Bochum im Porträt
von Martin Krumbholz
Einer schleicht sich an, hat ein Gewehr, führt etwas im Schilde. An der Rampe sitzt Jens Harzer als Nikolaj Alexejewitsch Iwanow, er hält ein Buch in der Hand, scheint kurz davor, einzuschlafen. Der sich da anschleicht, ist der ständig besoffene Gutsverwalter Borkin. Nähergekommen, zielt er auf seinen Herrn, will ihn ein bisschen erschrecken, weiter nichts. Harzer zuckt zusammen, aber er behält ganz und gar die Contenance. Keine Empörung, kein Aufschrei, nur ein müdes Lächeln. Dies ist der…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 6/2020
Thema: Martin Linzer Theaterpreis
Was macht das Schauspielhaus Bochum und sein Ensemble so besonders? Der Intendant Johan Simons mit den beiden Schauspielstars Sandra Hüller und Jens Harzer im Gespräch mit Martin Krumbholz
von Jens Harzer, Sandra Hüller, Martin Krumbholz und Johan Simons
Sandra Hüller, Sie sind bei sich zu Hause in Leipzig. Wie hat man sich den Alltag einer Schauspielerin vorzustellen, die aufgrund der Coronakrise nicht auftreten darf?
Sandra Hüller: Es gibt genug zu tun. Ich unterrichte zusammen mit meinem Mann meine Tochter, auch andere Kinder im Haus, wir haben einen strukturierten Tagesablauf, sodass wir nicht abstürzen und unsere Körper nicht verfallen. Ich habe noch keinen einzigen Tag herumgelegen.
Nur mit Theater hat das eher wenig zu tun?
Hüller: Es…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 6/2020
Thema
Programmdirektor Stefan Schmidtke über die Verschiebung des Festivals Theater der Welt im Gespräch mit Martin Krumbholz
von Martin Krumbholz und Stefan Schmidtke
Stefan Schmidtke, sind Sie nach der Absage von Theater der Welt 2020 in Düsseldorf in eine Depression gestürzt?
Ich habe es sportlich genommen. Es hatte sich ein großer emotionaler Sog aufgebaut in den vergangenen Monaten, und der faltet sich plötzlich zusammen, das ist schon deprimierend. Andererseits bin ich heilfroh darüber, dass die nordrhein-westfälische Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen und der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel gesagt haben, wir lassen es nicht…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 5/2020
Auftritt
Theater Bonn: „Apeiron“ (UA) von Anja Hilling. Regie Ludger Engels, Bühne Volker Thiele, Kostüme Sibylle Wallum
von Martin Krumbholz
Ein Mann liegt in einer Wanne. Sie ist unbewässert. Der Mann, bärtig, strubblige Haare, trägt einen weißen Strickpulli, der seinen ganzen Körper umhüllt. Der Mann ist ein erfolgreicher „Charakterdarsteller“ im Film gewesen, auf dem Höhepunkt seiner Karriere wird er jedoch einen jähen Absturz erleben und schließlich an einem Drogencocktail sterben. Der Mann ist eine von drei exemplarischen Figuren in Anja Hillings Auftragsarbeit „Apeiron“, die den Umschlag vom scheinbar grenzenlosen Erfolg in…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2020
tdz-extra: theater der welt 2020
Kurator Stefan Schmidtke über das Festival Theater der Welt 2020 in Düsseldorf im Gespräch mit Martin Krumbholz
von Martin Krumbholz und Stefan Schmidtke
Stefan Schmidtke, Sie waren während der Intendanz von Staffan Valdemar Holm 2011 bis 2014 hier in Düsseldorf Leitender Dramaturg, jetzt kehren Sie als Kurator des alle drei Jahre stattfindenden Festivals Theater der Welt zurück. In zehn Monaten haben Sie das Programm auf die Beine gestellt. Was ist das Geheimnis von Theater der Welt?
Das Geheimnis ist der Ort, an dem Sie es machen. Düsseldorf ist kein Szenespielort, sondern eine bürgerlich-akademische Stadt, in der Kunst einen hohen…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 3/2020
Das Düsseldorfer Schauspielhaus 1970–2020
von Martin Krumbholz
aus dem Buch: fünfzig
Auftritt
Düsseldorfer Schauspielhaus: „Henry VI & Margaretha di Napoli“ nach William Shakespeare von Tom Lanoye. Regie David Bösch, Bühne Patrick Bannwart, Kostüme Falko Herold
von Martin Krumbholz
Frauen stehen auf Shakespeares Personenzetteln ganz unten. Im ersten der drei Teile von „Heinrich VI.“ folgen auf zwei Dutzend Männerrollen drei weibliche Figuren, darunter Jeanne d’Arc (genannt „La Pucelle“, „das Flöhchen“) sowie Margaretha, Tochter des Herzogs von Anjou, zugleich Titularkönig von Neapel. Heinrich ist der Sohn des ruhmreichen Heinrich V., der in Frankreich viele Schlachten gewonnen hat; mit dessen Tod beginnt Shakespeares Trilogie, ein Jugendwerk von 250 Seiten, die der…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 2/2020
Magazin
Shelagh Delaney: A Taste of Honey. Hg. von Tobias Schwartz und André Schwarck, Aviva Verlag Berlin, 400 S., 22 EUR.
von Martin Krumbholz
Die Britin Shelagh Delaney – ihr Vorname verweist auf irische Wurzeln – war erst 19 Jahre alt, als ihr Stück „A Taste of Honey“ 1958 in Manchester zur Uraufführung kam. Der Aviva Verlag, der das Stück nun neu publizierte, übersetzt den Titel nicht; in Deutschland kam die preisgekrönte Verfilmung von Tony Richardson wie auch die Inszenierung von Peter Zadek (St. Pauli Theater Hamburg 2006) unter dem Titel „Bitterer Honig“ heraus. Mit ihrem Werk reihte sich die junge Autorin gewissermaßen in die…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 12/2019
Auftritt
Forum Freies Theater: „Thyestes Brüder! Kapital. Anatomie einer Rache“ von Claudia Bosse / theatercombinat nach Seneca. Regie und Raum Claudia Bosse
von Martin Krumbholz
Performances von Claudia Bosse sind eine Herausforderung. Als Zuschauer wird einem nichts geschenkt, nicht einmal eine Sitzgelegenheit: Ist man nach zwei Stunden des Herumstehens und -gehens in der Botschaft am Worringer Platz müde, kann man sich an eine Säule lehnen oder auf den Boden setzen. Die Trennung zwischen Publikum und den fünf Performern (später kommt ein Chor hinzu) soll fluid werden, das Publikum bewegt sich mit den Spielern im Raum: Die Botschaft ist ein weitläufiger ehemaliger…mehr
aus der Zeitschrift: Theater der Zeit 11/2019